Steigende Preise Droht ein Herbst radikaler Proteste?
Die Bundesregierung blickt mit Sorge auf den Herbst - unter anderem wegen möglicher radikaler Proteste gegen steigende Preise. Auch Forscher warnen. Haben Extremisten nach Corona ein neues Thema gefunden?
Politiker der Ampel-Regierung befürchten, dass steigende Gas- und Lebensmittelpreise zu sozialen Unruhen im Herbst führen könnten. Die Sorge dahinter: Die Demonstrationen könnten - ähnlich wie bei den Protesten gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen - erst von Extremisten unterwandert und die Demonstranten dann gegen den Staat aufgehetzt werden.
Krisen und Umsturzfantasien
Die Sorge sei berechtigt, sagt Matthias Quent von der Hochschule Magdeburg-Stendal. Schon jetzt versuchten zum Beispiel Rechtsextremisten mobil zu machen. So rufen die "Freien Sachsen" zu "massenhaftem Bürgerwiderstand" auf.
Ganz ähnlich klingt der Aufruf zu Protesten in Berlin. Am Montag konnten sich Interessierte je nach Uhrzeit verschiedenen Demos anschließen: um zehn Uhr "Revolte", um 14 Uhr "Aufstand" und um 18 Uhr "Bürgerkrieg".
Pia Lamberty, Geschäftsführerin des Think Tanks "Cemas" nennt das "Umsturzfantasien". An sich nichts Neues, doch die Verfassungsfeinde hofften, die multiple Krisenlage - Krieg, Klima und Corona - lasse sich besonders gut ausnutzen.
Differenzierte Betrachtung
Armin Schuster, Innenminister von Sachsen, bereitet sich in seinem Bundesland auf verschiedene Szenarien im Herbst vor. Für ihn sei dabei wichtig zu differenzieren: Auf der einen Seite gebe es Bürger, die Existenzängste haben - etwa, weil sie nicht wüssten, ob sie ihren Job behielten und wie sie am Ende des Jahres ihre Rechnungen begleichen sollten. Hier müsse der Staat helfen.
Auf der anderen Seite habe Schuster "Gruppierungen, Aktivisten, Parteien" wahrgenommen, die die aktuelle Situation für ihre Zwecke ausnutzen wollten. Diejenigen, die "mobilisieren und verhetzen" habe seine Behörde schon jetzt "im Blick".
Proteste könnten lauter werden
Noch sind es offenbar wenige Proteste, dezentral organisiert, in vielen Städten. Genaue Zahlen gibt es nicht. Doch die Proteste könnten lauter werden. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen hat auf seiner Sommertour durch Deutschland bereits einen Vorgeschmack bekommen.
Die Gegendemonstranten sprachen sich lautstark für die Inbetriebnahme der Gaspipeline Nord Stream 2 und gegen Russland-Sanktionen aus. Anders ausgedrückt: Sie zeigten sich solidarisch mit Putin, mit dessen autoritärem System - brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine hin oder her. Habecks Politik hingegen nannten sie zum Beispiel "Ökosozialismus".
Frühzeitige Auseinandersetzung mit Protesten
Aus Sicht des Rechtsextremismus-Forschers Quent ist es richtig, sich bereits jetzt mit möglichen größeren Protesten im Herbst auseinanderzusetzen. Schließlich gehe es darum, ob es den Gewerkschaften und Sozialverbänden gelingen werde, den Ärger über die Preisentwicklungen in demokratische Bahnen zu lenken, um dann für soziale Gerechtigkeit und Umverteilung zu kämpfen. Oder ob es sich Verfassungsfeinde mit ihrer Putin-freundlichen, antiliberalen Haltung auf den Demonstrationen durchsetzten.
Forderungen an die Politik
Die Politik müsse Räume für Proteste schaffen, die den demokratischen Spielregeln folgen, fordert Lamberty. Als Vorbild für solche Räume nennt sie die sogenannten Klimaräte, in denen Bürger möglichst alle gesellschaftlichen Gruppen repräsentierten und gemeinsam Lösungen erarbeiteten.
Wichtig ist nach Ansicht von Quent, dass die Politik ehrlich erklärt, warum sich Deutschland in eine Energieabhängigkeit von Russland begeben hat. Dazu gehört für ihn auch das unmissverständliche Eingeständnis, Fehler gemacht zu haben.
Darüber hinaus müsse die Bundesregierung für soziale Gerechtigkeit sorgen, so Quent. Und dabei auch im Blick haben, dass die materiellen Folgen in Ost und West unterschiedlich sein würden. So sei die wirtschaftliche Kapazität im Osten schwächer, das Ausmaß der Krise entsprechend größer.
Pläne der Bundesregierung
In der Tat tüftelt die Bundesregierung seit Wochen an einem weiteren Entlastungspaket. Bundesinnenministerin Nancy Faeser von der SPD hat zudem angekündigt, noch stärker gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien vorzugehen - auch durch präventive Maßnahmen.
Konkret meint sie damit eine stärkere Förderung von politischer Bildung und gesellschaftlichem Engagement. Dafür soll künftig die Abteilung Heimat zuständig sein.
Zeitdruck für Präventionsprojekte
Da Mobilisierung nicht immer nach dem gleichen Muster ablaufe, sondern je nach Region unterschiedlich, sei es richtig, Projekte vor Ort zu fördern, so Lamberty. Eine Expertise, die oft vor Ort bereits existiert, gebraucht wird und gefördert werden müsse. Die Frage sei allerdings, ob die Projekte schnell genug wirkten.
Diejenigen, die zu einem Dialog bereit sind, könne man mit solchen Projekten durchaus erreichen, sagt auch Quent. Harte Ideologen aber sicherlich nicht.
Forderung nach Krisenstab
Schuster fordert zudem einen Ressort-übergreifenden Krisenstab - ähnlich wie in der Corona-Pandemie. Die Krisenlage könne schließlich alle Bereiche der Politik treffen, zum Beispiel auch Familien und Schulen. Was, wenn etwa im Winter Sporteinrichtungen geschlossen werden müssten?
Dann gelte es, gemeinsam abgestimmte Lösungen zu erarbeiten. Und zwar zwischen Bund und Ländern. "Die Qualität des Krisenmanagements der Bundesregierung wird für das Ausmaß der Existenzängste und damit möglicher sozialer Proteste mitentscheidend sein", so Schuster. Sollte es nicht gelingen, zu helfen, könnte in der Tat eine große Protestbewegung auf Deutschland zukommen.