Interview

Entscheidungen in Wien und Rom "Wie viele Weckrufe braucht man noch?"

Stand: 05.12.2016 10:48 Uhr

Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen sieht nach dem Wahlsieg Van der Bellens in Österreich keinen Grund zur Entwarnung. Im Interview mit tagesschau.de spricht er über den wachsenden EU-Frust und die Fehler Europas im Umgang mit Italien.

tagesschau.de: Österreich bekommt einen pro-europäischen Präsidenten, Italien verliert wohl einen pro-europäischen Regierungschef. War gestern ein guter oder schlechter Tag für die EU?

Günter Verheugen: Es war ganz eindeutig ein schlechter Tag. Es besteht kein Grund, sich beruhigt zurückzulehnen - nicht im Fall Österreich und schon gar nicht im Fall Italien. Wenn in einem europäischen Land eine rechtsradikale, nationalistische Partei in einer Präsidentschaftswahl 48 Prozent der Stimmen gewinnen kann, dann ist das wirklich schlimm. Es wäre jetzt die völlig falsche Reaktion zu sagen: Wir sind noch einmal davongekommen. Man fragt sich wirklich, wie viele Weckrufe man noch braucht um zu verstehen, dass wir in Europa eine massive Ansammlung von Enttäuschung, Unzufriedenheit und Frustration haben, die sich in Wahlen und Abstimmungen jeder Art immer gegen das politische Establishment richtet. Die Katastrophe ist nicht eingetreten, aber das strukturelle Problem ist noch völlig unverändert.

Zur Person
Der SPD-Politiker Günter Verheugen war von 1999 bis 2004 EU-Erweiterungskommissar. In diese Zeit fielen die Beitrittsverhandlungen mit jenen osteuropäischen Staaten, die 2004 und 2007 in die EU aufgenommen wurden. In seiner zweiten Amtszeit bis 2010 war er für Industrie und Unternehmenspolitik zuständig und zudem Vize-EU-Kommissionspräsident. Seit 2010 ist er Honorarprofessor für Europäisches Regieren an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

tagesschau.de: Was wäre denn die angemessene Reaktion Brüssels auf das starke FPÖ-Ergebnis?

Verheugen: In Österreich hat das europäische Thema natürlich eine große Rolle gespielt. Und es ist ein gewisser Trost, dass der gewählte Präsident Alexander Van der Bellen einen klar pro-europäischen Wahlkampf geführt hat. Aber ich muss noch einmal sagen: 48 dagegen sind 48 Prozent dagegen. Und das ist einfach zu viel. Man muss stattdessen verstehen, woher diese tiefe Unzufriedenheit kommt und was man dagegen tun kann.

tagesschau.de: Rein wirtschaftlich gesehen steht Österreich gut da. Woher speist sich dort die Unzufriedenheit mit der EU?

Verheugen: Ich denke, dass die Zuwanderungsfrage in Österreich eine große Rolle gespielt hat.  Hinzu kommt, dass das Land traditionell europaskeptisch ist. Das ist erstaunlich, schließlich profitiert Wien sehr stark von seiner Mitgliedschaft.

In Österreich kommt noch die Unzufriedenheit mit dem politischen System hinzu, die sich über Jahrzehnte aufgestaut hat. Die beiden traditionellen Volksparteien SPÖ und ÖVP haben das Land  faktisch unter sich aufgeteilt. Dieses System kommt jetzt an sein Ende. Bei den nächsten Nationalratswahlen, die spätestens 2018 stattfinden müssen, dürften beide Parteien zusammen unter 50 Prozent landen.

tagesschau.de: Kommen wir zu Italien: Hier fiel das Ergebnis noch deutlicher aus. 60 Prozent der Wähler haben die Verfassungsreform von Matteo Renzi abgelehnt. Die Regierung steht vor dem Rücktritt. Was bedeutet dieses Ergebnis für die Stabilität des Landes?

Verheugen: Wir stehen vor einer Phase noch größerer Unsicherheit, welchen Weg das Land einschlagen wird. Das Ergebnis und der Rücktritt werden Reaktionen haben - etwa auf den Finanzmärkten und auf den Euro-Kurs. Auch bergen die unvermeidlichen Neuwahlen das Risiko in sich, dass sich das traditionell unglaublich europafreundliche Italien von der EU abwendet. In der jüngsten Umfrage des Europäischen Parlaments zur Stimmung in der EU kam zu dem erschütternden Ergebnis, dass in Italien nur noch 38 Prozent der Bürger die Europäische Union für Nützlich halten. Das wird Auswirkungen auf die kommenden Wahlen haben. Für den Zusammenhalt in der EU bedeutet das nichts Gutes.

tagesschau.de: Woher kommt dieser Stimmungsumschwung?

Verheugen: Italien kommt seit der Finanzkrise  wirtschaftlich nicht auf die Beine. Das hat sehr viel mit europäischer Politik zu tun, vor allem auch mit deutscher Politik. Der von Italien geforderte Stabilitätskurs hat dafür gesorgt, dass im Land nicht genug investiert wird. Industriearbeitsplätze sind massiv verloren gegangen. Man kriegt die Arbeitslosigkeit nicht in den Griff Deshalb herrscht in Italien auch eine Jugendarbeitslosigkeit von 36 Prozent! Und die Italiener fühlen sich auch in der Flüchtlingsfrage alleingelassen.

tagesschau.de: Was müsste getan werden, um Italien wirtschaftlich zu unterstützen?

Verheugen: Die Italiener haben in den vergangenen Jahren in bemerkenswerter Weise versucht, die Spar-Auflagen zu erfüllen, die ihnen die europäischen Partner, allen voran Deutschland, gemacht haben. Hier liegt jedoch das Problem. Zudem haben wir es mit einem Konstruktionsfehler des Euros zu tun. Eine Währungsunion kann nur funktionieren, wenn die Mitgliedsstaaten ungefähr die gleiche Wettbewerbsfähigkeit mitbringen oder wenn eine governance existiert, die den Unterschieden Rechnung trägt. Das ist in der EU aber nicht der Fall. Das Ergebnis ist, dass die Unterschiede immer größer werden. Deutschland profitiert vom niedrigen Euro-Kurs sehr viel stärker, als alle anderen Länder. Dieses Konstruktionsproblem der Eurozone muss man angehen! Wir sollten auch nicht länger darauf setzen, dass Länder, die aufholen müssen, dies durch interne Abwertung, also Sozialeinschnitte bewerkstelligen müssen.  Wir werden deshalb nicht darum herumkommen, dass innerhalb der Euro-Zone ein größerer Geldtransfer stattfindet - von den reicheren in die ärmeren Länder. Das hören wir Deutschen nicht gern, aber so ist die Lage.

tagesschau.de: Die gescheiterte Verfassungsreform wurde von ihren Gegnern, zu denen auch populistische Bewegungen zählten, als Beschneidung der italienischen Demokratie kritisiert. Was bedeutet es, wenn sich Populisten zunehmend als Verteidiger der Demokratie wahrgenommen werden?

Verheugen: Die Demokratie-Frage war ein vorgeschobenes Argument. Hier ging es darum, eine sehr schwerfällige und sich selbst blockierende Verfassung zu modernisieren und transparentere, klarere Entscheidungsprozesse herbeizuführen. Das kann ich nicht als Abbau von Demokratie verstehen. Die Gegner Renzis haben seinen kühnen Versuch notwendige Reformen durchzusetzen schlicht benutzt, um die Machtverhältnisse im Land zu ändern.

tagesschau.de: Durch den Rücktritt des Ministerpräsidenten könnte es im kommenden Jahr auch in Italien zu Neuwahlen kommen. Es wäre das vierte europäische Kernland, neben Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, das 2017 an die Urnen muss. Welche Konsequenzen wird dieser Dauerwahlkampf für die EU haben?

Verheugen: Das bedeutet, dass wir in Europa vor einer Phase stehen, in der notwendige Reformen nicht angegangen werden können. Die drohende Stagnation dürfte dafür sorgen, dass der aufgestaute Frust noch mehr zunimmt.

Das Interview führte Julian Heißler, ARD-aktuell

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 04. Dezember 2016 um 22:45 Uhr.