Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Was bedeutet das Lissabon-Urteil?
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem weitreichenden Urteil definiert, wie weit die Integration Deutschlands in die Europäische Union gehen darf. Anlass war die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat zum Reformvertrag von Lissabon, mit dem die EU sich reformieren darf. tagesschau.de erklärt die wesentlichen Aspekte des Urteils in Fragen und Antworten.
Sind im Prinzip miteinander vereinbar: Grundgesetz und EU-Refomvertrag
Ist der EU-Vertrag von Lissabon verfassungskonform?
Im Grundsatz ja. Laut Urteilsbegründung ergibt sich aus der Präambel des Grundgesetzes und aus Artikel 23 der "Verfassungsauftrag zur Verwirklichung eines vereinten Europas". Weil das Grundgesetz vom Willen zur europäischen Integration geprägt ist, wohnt ihm auch der Grundsatz der "Europarechtsfreundlichkeit" inne.
Wieviel Souveränität darf Deutschland an die EU abgeben?
Aus der Europarechtsfreundlichkeit folgt, dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf "zwischenstaatliche Einrichtungen wie die Europäische Union" verfassungskonform ist. Allerdings setzt das Gericht dieser Übertragung Grenzen. Das Grundgesetz erlaubt demnach "nicht den Beitritt zu einem Europäischen Bundesstaat". Dies würde gegen die vom Grundgesetz zugesicherte "souveräne Staatlichkeit der Bundesrepublik" verstoßen. Vielmehr wird die EU ausdrücklich als "supranationale Organisation" definiert. Das Bundesverfassungsgericht pocht deshalb darauf, dass der europäische Einigungsprozess nicht dazu führt, dass das demokratische System Deutschlands ausgehöhlt wird. Den Mitgliedsstaaten müsse ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse bleiben. Als besonders sensibel bezeichnet das Gericht beispielsweise das Strafrecht, Polizei und Militär, Steuern und Sozialausgaben sowie Familienrecht und Religion. Ferner müsse die Verfassungsidentität gewahrt bleiben. Darunter versteht das Gericht auch das Demokratieprinzip, die Recht- und Sozialstaatlichkeit sowie die Grundrechte.
Welche Änderungen verlangt das Bundesverfassungsgericht?
Zusammen mit dem EU-Vertrag von Lissabon haben Bundestag und Bundesrat ein Begleitgesetz verabschiedet, das die Beteiligung des Parlaments und der Länder beim Erlass europäischer Vorschriften regelt. Im Kern sieht es die Möglichkeit vor, bestimmte EU-Initiativen abzulehnen. Ohne ausdrücklichen Widerspruch würde dies aber umgekehrt eine stille Zustimmung bedeuten. Auf diese Weise verzichtet der deutsche Gesetzgeber laut den Verfassungsrichtern unzulässigerweise auf einen Teil seiner Kompetenzen.
Dabei geht es besonders um Änderungen des Einstimmigkeitsprinzips auf EU-Ebene. Um die EU handlungsfähiger zu machen, sollen künftig mehr Entscheidungen im Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit fallen. Bundestag und Bundesrat dürften dabei ihre "notwendige und konstitutive Zustimmung" weder aufgeben noch "auf Vorrat" erteilen, erklärten die Verfassungsrichter. Das Parlament sei für den Vollzug der EU-Verträge mitverantwortlich und dürfe sich nicht auf eine einmalige Zustimmung zum Vertragswerk selbst beschränken. "Ein Schweigen von Bundestag und Bundesrat reicht daher nicht aus", so das Urteil mit Blick auf die Regelungen des Begleitgesetzes. Ein reines Ablehnungsrecht sei kein ausreichender Ersatz für die notwendige Zustimmung in einem Ratifizierungsverfahren. Das Begleitgesetz schützt laut dem Urteil das EU-Mitglied Deutschland nicht effektiv vor unvorhersehbaren Vertragsänderungen. In den fraglichen Fällen dürfe die Bundesregierung im Europäischen Rat nur zustimmen, wenn sie von Bundestag und Bundesrat dazu ermächtigt wurde.
Welche Regeln sah das beanstandete Begleitgesetz vor?
Das von Bundestag und Bundesrat verabschiedete - aber noch nicht in Kraft getretene - Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag erlaubte Bund und Ländern, EU-Initiativen zur Ausweitung des Mehrheitsprinzips bei Entscheidungen im Europäischen Rat abzulehnen. Eine ausdrückliche Zustimmung war aber demnach nicht erforderlich. Bisher müssen Bundestag und Bundesrat immer eigens "Ja" zu Vertragsänderungen sagen.
Das Begleitgesetz regelt auch eine weitere Frage. Es geht dabei um das Vorrecht der Mitgliedsstaaten in der Gesetzgebung vieler Politikbereiche, das sogenannte Subsidiaritätsprinzip. Wenn die EU dagegen verstößt und sich zu viele Kompetenzen anmaßt, könnten Bundestag und Bundesrat dagegen klagen. Die genauen Bedingungen legte das Begleitgesetz fest.
Welche Rolle gibt sich Karlsruhe im europäischen Prozess?
Das Bundesverfassungsgericht behält sich auch nach Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags eine weitreichende Kontrolle vor. So besteht Karlsruhe auf der Kontrolle der "Verfasungsidentität". Es will auch künftig kontrollieren, ob europäische Rechtsakte mit dem "unantastbaren Kerngehalt" des Grundgesetzes wie etwa dem Schutz der Menschenwürde und dem Demokratieprinzip vereinbar sind. Zudem will das Gericht darüber wachen, ob sich die EU beim Erlass von Regelungen im Rahmen ihrer Zuständigkeit bewegt, falls beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg kein Rechtsschutz zu erlangen ist.
Wie geht es weiter?
Der Bundestag muss nun die Mitwirkungsrechte neu formulieren und entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ausweiten. Darüber wird er voraussichtlich in Sondersitzungen noch im August und September abstimmen, damit der EU-Reformvertrag spätestens Anfang 2010 in Kraft treten kann. Anschließend muss der Bundesrat dem neuen Begleitgesetz zustimmen. Ist das geschehen, kann Bundespräsident Horst Köhler das Gesetz unterschreiben, mit dem der Bundestag den Reformvertrag von Lissabon gebilligt hat. Damit ist der EU-Vertrag völkerrechtlich von Deutschland ratifiziert. Die Ratifizierungsurkunde wird schließlich in Rom hinterlegt.