Antisemitismus bei Palästina-Demos "Diese Leute nutzen die Gunst der Stunde"
In Berlin gibt es immer wieder propalästinensische und teils antisemitische Demonstrationen. Menschenrechtlerin und Imamin Ateş beobachtet das mit Schrecken. Berlins Innensenatorin warnt vor weiterer Radikalisierung.
Seit einiger Zeit kann man sich in Berliner Polizeimeldungen regelmäßig über Dinge informieren, die es so vor gut einem Jahr nicht gegeben hat: antisemitische Vorfälle bei propalästinensischen Demonstrationen, an Hochschulen oder auf offener Straße.
Unter der nüchternen Überschrift "Bilanz dreier Versammlungen mit Bezug zum Nahostkonflikt" fasste die Polizei kürzlich den neuen Alltag in der Hauptstadt zusammen. Es ging um einen propalästinensischen Marsch unter dem Titel "Stoppt den Genozid in Gaza" und zwei proisraelische Gegendemos.
Beleidigungen, Stein- und Flaschenwürfe
Laut Polizei kam es beim propalästinensischen Marsch von Beginn an zu Vermummungen, Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen sowie Angriffen auf Einsatzkräfte. Als die Teilnehmer an den proisraelischen Demos vorbeizogen "kam es zu Beleidigungen, Stein- und Flaschenwürfen zum Nachteil der Teilnehmenden der pro-israelischen Versammlungen", so die Beschreibung der teils offenbar antisemitisch motivierten Vorfälle. Auf der Demonstration gab es Rufe wie "Hamas! Hamas!" oder "Sinwar! Sinwar!" Außerdem wurde die arabische Variante der in Deutschland inzwischen verbotenen Parole "From the river to the sea - Palestine will be free" skandiert.
Die Polizei notierte "sich fortlaufend häufende Straftaten" und beendete den propalästinensischen Marsch schließlich. "Im Abstrom" der Teilnehmer kam es zu weiteren Gesetzesverstößen. Die Einsatzkräfte setzten Hunde ein, um der Lage wieder Herr zu werden. Nach rund vier Stunden war die Demonstration vorbei.
Polizei spricht von Mehrfachtätern
Es war nicht die erste propalästinensische Kundgebung, die so verlief. Die Demonstrationen waren kürzlich auch Thema im Verfassungsschutzausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses. Neben der Vielzahl und Heftigkeit der Ausschreitungen fällt noch etwas auf: Die Polizei hat es mit "alten Bekannten" zu tun. Seit mittlerweile einem Jahr fallen demnach die immer gleichen Teilnehmer von propalästinensischen Demonstrationen mit Straftaten auf.
Die Polizei sagt, sie kenne den Kern der Mehrfachtäter. Diese seien regelmäßig bei Versammlungen festgestellt worden. Sie seien gewaltbereit - und verhältnismäßig wenige. Der Leiter der Landespolizeidirektion, Jörg Dessin, nannte vor Kurzem eine Größenordnung: "Wir würden von einem mittleren bis hohen zweistelligen Bereich ausgehen."
Gefahr der weiteren Radikalisierung?
Berlins Innensenatorin, SPD-Politikerin Iris Spranger, rechnet nicht damit, dass die Zahl der radikalen antisemitischen, israelfeindlichen und in Teilen auch linksextremen Taten weniger wird: "Wir müssen davon ausgehen, dass der gefestigte Teil dieser Szene in seinem Aktionismus nicht nachlassen wird und dabei auch die Gefahr einer weiteren Radikalisierung besteht."
Die Gesamtzahl der Demonstrationen überschreitet selten die Tausender-Marke - ebenfalls eine überschaubare Größenordnung. Dabei rekrutiert sich der Zug schon aus mehreren Szenen. Eine rbb-Reporterin fasste das Teilnehmerfeld unlängst so zusammen: "linke und linksextreme Gruppen aller Couleur, Feministinnen, Queer-Aktivisten, Palästinenser, arabischstämmige Menschen, Islamisten."
Seyran Ateş beobachtet das mit Schrecken. Die Frauenrechtlerin und liberale Muslima wurde bekannt, weil sie eine Moschee gegründet hat, die einen "aufgeklärten Islam" vertreten will. Außerdem berät sie als Anwältin - vor allem muslimische - Frauen, die sich von ihren oft gewalttätigen Männer trennen wollen.
Ateş: Gewalt spielt große Rolle
Für Ateş haben die israelfeindlichen und teils antisemitischen Demonstrationen nur an die Oberfläche gespült, was schon lange vorhanden war: "Diese Leute nutzen die Gunst der Stunde. Die Anführer sind Vertreter von dem, was ich Gegengesellschaft nenne." Die "Gegengesellschaft" ist laut Ateş das, was häufig als muslimische "Parallelgesellschaft" bezeichnet wird. Doch Ateş betont, diese Subkultur richte sich ganz bewusst gegen die westlichen freiheitlichen Werte.
"In diesen Gruppen hat es schon immer Judenhass gegeben. Das ist nichts Neues. Die haben jetzt einen Vorwand, durch den sie sich legitimiert fühlen", führt Ateş aus. Und zwar die israelische Militäraktion in Folge des 7. Oktober. Für sie ist es kein Zufall, dass von den Demos regelmäßig Straftaten ausgehen: "Gewalt spielt in diesen Gegengesellschaften eine riesige Rolle."
Die Demos würden angeführt von einem Milieu, das häufig kriminell sei, deutsche Gesetze verachte und gleichzeitig teils fanatisch religiös sei. Auch die überschaubare Zahl der Teilnehmer überrascht Ateş nicht: "Diese Leute vertreten nur einen kleinen Teil der Muslime in Deutschland."
Neue Allianzen?
Es ist ein anderer Teil der Teilnehmer, der Ateş regelrecht schockiert: die LGBTQ-Community, die sich zum Teil in die propalästinensischen Demos einreiht. "Viele der LGBTQ-Aktivisten haben das Bild von Gaza als einem KZ, in dem ein Genozid stattfindet", so erklärt Ateş die neue Allianz. "Man will sich mit den Opfern als Opfer fühlen."
Ateş hat Berührungspunkte in beide Subkulturen: die islamische "Gegengesellschaft" einerseits und die feministische LGBTQ-Community am eigentlich anderen Ende des politischen Spektrums. Sie erzählt von einem "Dyke-Marsch", einer Demonstration "für lesbische Sichtbarkeit". Dort sei die Solidarität mit den propalästinensischen Aktivisten so weit gegangen, dass die Frauen zugelassen hätten, dass Palituch tragende Männer den Marsch mitanführten.
Was Feministinnen und lesbische Aktivistinnen mit Vertretern eines konservativen Islam verbinde, sei logisch nur schwer erklärbar. Ateş tröstet sich mit einer Hoffnung: "Wenn sich die Lage etwas beruhigt, werden diese Leute erkennen, mit wem sie da zusammenarbeiten."
Mit Material von Kerstin Breinig, rbb