Bahnübergang mit Andreaskreuz
Mittendrin

Bahnverkehr in niedersächsischer Stadt Ein eingeschränktes Leben

Stand: 06.06.2023 15:51 Uhr

Sieben Bahnübergänge zerschneiden Neustadt am Rübenberge. Die Menschen müssen bis zu 30 Minuten Puffer auf ihren Wegen einplanen. Das sorgt für Stress - und kann auch gefährlich werden.

Die Schlange der Fahrzeuge wird länger und länger. 14 Minuten ist die Schranke am Bahnübergang nun schon geschlossen. Ein paar Autofahrer sind ausgestiegen und schimpfen, einer hupt, und selbst der Rettungswagen kommt erstmal nicht vom Fleck. Erst rauscht ein ICE vorbei, dann lange nichts, bis der ellenlange Güterzug aus der anderen Richtung durchrattert. Ein ganz normaler Tag in Neustadt am Rübenberge. Sieben Bahnübergänge zerschneiden die niedersächsische Stadt, beeinträchtigen den Alltag der Menschen, bremsen ihn aus.

Bis zu 16 Stunden pro Tag sind die Schranken hier unten. Neustadt liegt auf der Strecke zwischen Bremen und Hannover, sämtliche Güterzüge zum Jade-Weser-Port müssen hier durch. Das Ergebnis: Im Schnitt durchqueren täglich etwa 287 Züge des Nah-, Fern- und Güterverkehrs die Ortschaft, so die Deutsche Bahn. Und es wird noch schlimmer: Immer mehr Güter werden auf die Schienen verlagert, die Bahn verdichtet die Taktung.

Neustadt am Rübenberge: #mittendrin in der Stadt der Schranken

Sophie Mühlmann, NDR , tagesthemen, 05.06.2023 21:45 Uhr

Auch Rettungskräfte müssen warten

Wer hier lebt, muss also Pufferzeiten einplanen. Mindestens zehn, manchmal bis zu 30 Minuten steht man hier immer vor irgendeiner Schranke - egal, ob Fahrrad oder privater Pkw, ob Müllwagen, Linienbus oder Feuerwehr.

Dass auch die Rettungskräfte im Zweifel warten müssen, macht den Anwohnern Sorgen. "Wir denken immer die Schranke mit", erzählt Carsten Köhne. Er selbst habe im vergangenen Jahr einen Unfall gehabt, habe zu Hause unter Schmerzen gelegen und gerechnet, wieviel später der Notarzt wohl kommen würde.

Risiko Bahnübergang

Aber die Übergänge selbst sind auch ein Risiko. Die Menschen, frustriert vom dauernden Warten, werden leichtsinnig. "Wenn Sie sehen, wie viele Autos hier bei Rot rüberfahren", erzählt Ortsbürgermeisterin Monika Strecker. "Das ist so gefährlich!" Radfahrer flitzen noch schnell unter der Schranke durch, Fußgänger klettern drüber, Pkw geben Gas, wenn die allgegenwärtige Glocke der sich senkenden Schlagbäume erklingt.

Gerade erst gab es wieder einen Unfall am Bahnübergang Himmelreich im Norden der Stadt. In der Nacht zum 23. April waren drei junge Menschen umgekommen, als der 22-jährige Fahrer um die geschlossene Halbschranke herumgefahren war. Ihr Auto wurde von einem Regionalexpress in voller Fahrt erfasst. Der junge Mann und seine beiden 21- und 22-jährigen Mitfahrerinnen waren sofort tot.

42 Menschen starben im vergangenen Jahr an deutschen Bahnübergängen - so viele wie seit dem Jahr 2010 nicht mehr. Das zeigen Daten der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU). Dabei ist die Statistik der Bahn eindeutig: Zu mehr als 97 Prozent führte ein Fehlverhalten von Verkehrsteilnehmern zu den Unfällen.

Allein das Umfahren von Halbschranken - wie in Himmelreich - würde zu mehr als einem Drittel aller Unglücke führen. Lokführern bleibt da keine Chance, noch rechtzeitig anzuhalten: Ein 1000 Tonnen schwerer Personenzug etwa habe bei Tempo 100 einen Bremsweg von etwa einem Kilometer.

Fahrradfahrer warten an einem Bahnübergang

Radfahrer und Autofahrer müssen in Neustadt am Rübenberge gleichermaßen an den Bahnübergängen warten.

Kampf gegen Windmühlen

Im Moment gibt es in Deutschland rund 16.000 Übergänge, die meisten davon in Bayern (rund 2940), Niedersachsen (2040) und Nordrhein-Westfalen (2000). Seit den 1950er-Jahren hat sich die Zahl der Bahnübergänge etwa halbiert. Sie wurden durch Unterführungen oder Brücken ersetzt oder Strecken wurden stillgelegt.

Ähnliches ist auch in Neustadt am Rübenberge geplant - seit Jahren schon. Vor genau einem Jahrzehnt hat Ulrich Thies die Bürgerinitiative "Schranke weg!" gegründet. Nun hat er das Handtuch geworfen, weil sich trotz aller Arbeit, trotz Briefverkehr, Zeitmessungen, persönlichem Einsatz, noch immer nichts bewegt hat. Ein Kampf gegen Windmühlen: "Gegen die Hartnäckigkeit der Behörden und deren Vorstellung von Zeitabläufen", erzählt Thies resigniert. "Dass hier jeder Tag zählt und nicht Jahre, da kommen Sie nicht gegen an."

Autos warten an einem Bahnübergang

Bis zu 16 Stunden am Tag sind die Schranken in Neustadt am Rübenberge unten.

Der Baubeginn kann sich verschieben

Einen Bahnübergang zu modernisieren kostet Millionen. Wer welche Kosten übernimmt, auch das muss zunächst verteilt werden. In Neustadt am Rübenberge zum Beispiel sind vier Parteien beteiligt: Neben der Stadt und der Region Hannover sind auch die Landesstraßenbaubehörde und natürlich die Bahn Projektpartner und müssen sich einigen.

Verhandlungen mit dem Streckenbetreiber DB Netz ziehen sich mitunter über viele Jahre hin. Die Bahn legt sogenannte Sperrpausen für die Gleisbauarbeiten fest. Wenn die Planung nicht rechtzeitig abgeschlossen ist und diese Sperrpause verstreicht, dann verschiebt sich der Baubeginn erneut um Jahre.

Genau das ist in Neustadt passiert. Naturschutzprüfungen sind nötig: Leben geschützte Arten im Gebiet der Baustelle, ist der Boden frei von Kampfmitteln? Erst, wenn das alles geklärt ist, kann es einen Planfeststellungsbeschluss geben und die Ausschreibung darf beginnen. Im Klartext: Der erste Stein für die erste Bahnüberführung der Stadt wird frühestens Ende 2026 gelegt werden können.

Wer die Fahrpläne kennt, ist im Vorteil

Für viele hier ist das einfach zu spät. "Wir fühlen uns abgehängt", sagt Harry Lohmann, der mit seiner Frau hinter der Schranke im Ortsteil Poggenhagen lebt, wo die Übergänge länger geschlossen bleiben als in jedem anderen Teil der Stadt. Viele seien schon weggezogen. Die anderen kennen die Fahrpläne auswendig, planen ihren Tag rund um die Zugzeiten.

Neustadt am Rübenberge ist um die Schienen herum gewachsen, und der Eisenbahnverkehr bleibt wichtiger denn je. Trotzdem: Für die Menschen hier ist das Leben im wahrsten Sinne des Wortes eingeschränkt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 05. Juni 2023 um 21:45 Uhr.