Finger auf leuchtender Tastatur

Online-Hass Organisiertes Mobbing als perverses Spiel

Stand: 06.08.2024 12:54 Uhr

Zehntausende schauen zu, wie Menschen in sozialen Medien gequält und erniedrigt werden. Hunderte werden zu Opfern. Recherchen der ARD Story zeigen einen Einblick in Deutschlands größte Mobbinggruppe.

Von Christoph Kürbel, WDR 

Es beginnt mit Hunderten Essensbestellungen über Lieferando, die Aline Bachmann an ihrer Wohnungstür entgegennehmen und bezahlen soll. "Das fing ja wirklich mit zehn, zwanzig Bestellungen am Tag an, und das artete manchmal derart aus. Gerade wenn ich auf Social Media, auf verschiedenen Plattformen, auf TikTok, Instagram live gegangen bin", sagt Bachmann.

Sie ist Influencerin mit knapp 600.000 Followern auf Instagram und mehreren Hunderttausend auf TikTok - und seit mehreren Jahren Opfer einer Mobbinggruppe. Diese Gruppe nennt sich NWO. Das steht für "Neue Weltordnung" oder "Nie wieder online". Ihre Mitglieder üben im Internet Selbstjustiz oder leben ihren Hass aus.  

Die Mobber schicken Menschen zu Aline Bachmann, die Drogen kaufen wollen. Sie bedrohen ihre Mutter mit dem Tod. Irgendwann fangen sie Bachmanns Post ab und fingieren eine Bombendrohung, die Bachmann und ihr Lebensgefährte angeblich verfasst haben. Bachmann fliegt daraufhin aus ihrer Wohnung.

Ermittlungsbehörden scheinen überfordert

Die Polizei findet aus dem sogenannten "Aline Bachmann Game", bei dem Tausende zuschauen, keinen einzigen Täter. Stattdessen wird immer wieder gegen die Influencerin selbst ermittelt. Laut Bachmann war die Polizei 28 Mal wegen verschiedener fingierter Notrufe in ihrer Wohnung.

Die Polizei Dresden macht dazu keine Angaben und verweist an das LKA Sachsen. Die dortige Pressestelle wiederum schreibt auf Anfrage: "Die verschiedenen Straftaten von Cybermobbing fallen nicht in den Zuständigkeitsbereich des Landeskriminalamtes. Cybermobbing wird stattdessen in den örtlich zuständigen Polizeidirektion bearbeitet."

Unzählige Mobbing-Games laufen gleichzeitig. In Hunderten Gruppen bei Telegram, aber auch auf WhatsApp oder Discord verabreden sich die Mobber, um sich immer neue Bosheiten auszudenken und ihre Opfer zu terrorisieren. Die Täter werden so gut wie nie identifiziert. Dabei gehen sie auch gegen hilflose Personen mit perfiden Methoden vor. 

Opfer werden gequält und erniedrigt

Vor einer Webcam sitzt ein Mann mit Glatze in einer heruntergekommenen Wohnung. Er steht unter Drogen, hält die Hände über den Kopf, fällt nach hinten. Aus dem Hintergrund ertönt die amüsierte Stimme eines jungen Mannes: "Sie kommen dich holen, die Polizei ist da, die Polizei ist da."

Der Mann mit der Glatze ist 65 Jahre alt und psychisch krank. Er ist aus mehreren geschlossenen Psychiatrien geflohen. Dabei hatte er Hilfe. Eine Gruppe von Internet-Trollen hat sich über Monate als ein Fernsehteam ausgegeben und ihn mit Anweisungen und Versprechungen durch ganz Deutschland gesteuert.

Jetzt sitzt er bei einem anderen Mobbingopfer zu Hause und hat, weil ihm die Mobber es befohlen haben, ein Gramm der psychoaktiven Substanz MDMA eingenommen. Eine extreme Überdosis. 

Nach dieser zweistündigen Webcam-Aufnahme verschwindet der Mann spurlos. "Der ist halt da und ist zur Belustigung", sagt einer der "Spielteilnehmer" im Interview mit der ARD Story. Er nennt sich Pressesprecher der NWO und spricht ohne Mitgefühl über das Leid dieses Mannes. Er und seine Mittäter sind Teil dieser organisierten Mobbinggruppe, die seit mehr als zehn Jahren Menschen im Internet terrorisiert, bedroht und gezielt deren Leben zerstört.   

Zwölf Jahre "Drachengame"

Eines der bekanntesten Mobbingopfer im Netz ist Rainer Winkler alias Drachenlord. Seit zwölf Jahren wird der ehemalige YouTuber im Internet mit Hass überzogen. "Der Drachenlord ist sozusagen die Wurzel allen Übels, weil das ist das Sammelbecken für Hater und Trolle", sagt der selbsternannte NWO-Pressesprecher. Der Mobber bezieht sich hier auf eine Telegram-Gruppe mit 60.000 Mitgliedern, die Rainer Winkler jagen. 

Mit umstrittenen Äußerungen zum Holocaust und zu Kindesmissbrauch hat der Drachenlord Hass auf sich gezogen. Hass, der keine Grenzen zu kennen scheint und ihn zum Spielball der Mobber macht.

"Es gibt durchaus Personen, die Drachenlord sachlich kritisieren, aber dann halt auch relativ schnell in dieses Game reinrutschen", sagt Ornella Al Lami. Sie ist Hackerin, jagt online Sexualstraftäter und kennt die Mobberszene genau. Sie kooperiert mit den Mobbern, aber auch mit der Polizei.  

Bundesweite Notrufmissbräuche

Die NWO-Mitglieder und andere Gruppen richten deutschlandweit auch durch fingierte Notrufe großen Schaden an. Besonders einfach hatten es die Täter mit der NORA-App, die Notruf-App der Bundesländer, die mittlerweile nicht mehr verfügbar ist. Sie geben unter Angabe falscher Telefonnummern vor, in Not zu sein und schicken ihren Opfern so die Polizei ins Haus.

In einem internen Dokument des nordrhein-westfälischen Innenministeriums, das der ARD Story vorliegt, heißt es, die Missbräuche könnten "auf drei Rufnummern zurückgeführt werden".

Zwei der Täter konnte die Hackerin Ornella Al Lami finden. Gegen sie wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der dritte Täter wurde bisher nicht gefasst. "Es macht ihm ja auch Spaß zu zeigen, dass die Behörden ihn nicht dran bekommen", sagt die Hackerin. Die Polizei ist bei ihren Ermittlungen immer wieder auf sie angewiesen, auch als im Oktober 2023 an 250 Schulen bundesweit angebliche Bombendrohungen der Hamas eingingen. Es waren dieselben Täter.   

Die ARD Story "Das Cybermobbing-Kartell" zeigt das Erste am 07.08.2024 um 22:50 oder schon jetzt in der ARD-Mediathek.