Meterhoch türmen sich Wohnwagen, Gastanks, Bäume und Schrott an einer Brücke über der Ahr in Altenahr. (Archivfoto: 19.07.2021)
faq

Flutkatastrophe von 2021 Worum es bei den Ahrtal-Ermittlungen geht

Stand: 18.04.2024 10:17 Uhr

Fast drei Jahre nach der Flutkatastrophe im Ahrtal gibt die Staatsanwaltschaft das Ergebnis ihrer Ermittlungen bekannt. Kommt es zu einer Anklage wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung im Amt durch Unterlassen?

Von Kolja Schwartz, ARD-Rechtsredaktion

Die Ausgangslage

Im Juli 2021 starben bei der Flutkatastrophe im Ahrtal 135 Menschen, Hunderte wurden verletzt, 9.000 Häuser wurden zerstört oder beschädigt. Drei Wochen nach dem Unglück leitete die Staatsanwaltschaft Koblenz ein Ermittlungsverfahren ein. Die Vorwürfe: fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung im Amt. Jeweils begangen durch "Unterlassen".

Die Ermittlungen richten sich gegen den damaligen Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler, und eine weitere Person des Krisenstabs. Es gebe Anhaltspunkte dafür, dass die Bevölkerung zu spät und unzureichend vor den Wassermassen gewarnt wurde und dass durch dieses Fehlverhalten Menschen verletzt worden und zu Tode gekommen sind, begründete die Staatsanwaltschaft damals die Einleitung des Ermittlungsverfahrens. Gut zweieinhalb Jahre später verkündet sie nun das Ergebnis der Ermittlungen.

Welche Möglichkeiten hat die Staatsanwaltschaft?

Es gibt im Grunde zwei Möglichkeiten: Die Staatsanwaltschaft wird entweder Anklage gegen die Beschuldigten oder auch nur einen der Beschuldigten erheben. Dann geht die Sache zu einem Gericht. Oder sie stellt das Ermittlungsverfahren ein.

Für die Entscheidung ist eine Prognose nötig: Ist aus Sicht der Staatsanwaltschaft in einem späteren Prozess eine Verurteilung wahrscheinlicher als ein Freispruch? (Juristen sprechen von "hinreichend wahrscheinlich".)

Dann muss die Staatsanwaltschaft Anklage erheben. Kommt die Staatsanwaltschaft hingegen zu dem Ergebnis, dass ein späterer Freispruch wahrscheinlicher ist als eine Verurteilung, so stellt sie das Ermittlungsverfahren ein.

Warum entscheidet die Staatsanwaltschaft und kein Gericht?

Für ein Ermittlungsverfahren ist immer die Staatsanwaltschaft zuständig. Sie ist verpflichtet, ein solches zu führen, wenn es Anhaltspunkte für eine Straftat gibt. Und sie ist verpflichtet, Anklage zu erheben, wenn sich diese Anhaltspunkte so verdichten, dass eine Verurteilung wahrscheinlicher ist als ein Freispruch.

Nur wenn es eine Anklage gibt, landet der Fall vor Gericht. Wenn es aus der Sicht der Staatsanwaltschaft aber nicht reicht für eine spätere Verurteilung, dann stellt sie das Verfahren ein und die Sache landet grundsätzlich nicht vor Gericht.

Die Staatsanwaltschaft ist zur Objektivität, Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet. Sie muss alle Tatsachen ermitteln, egal ob sie für oder gegen die Schuld der Beschuldigten sprechen.

Wie geht es nach einer Anklage weiter?

Die Staatsanwaltschaft schickt die Anklage an das zuständige Gericht. Dieses prüft dann selbst, ob es den "hinreichenden Tatverdacht" sieht. Dann kommt es zu einem Prozess in einem Gerichtssaal.

Was genau bedeutet "fahrlässige Tötung durch Unterlassen"?

Um wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen verurteilt zu werden, müssen mehrere Voraussetzungen vorliegen:

  1. Der Täter hat eine bestimmte Handlung nicht ausgeführt, obwohl er zu dieser Handlung verpflichtet war.
  2. Er konnte die dadurch entstehende Gefahr für das Leben eines oder mehrerer Menschen vorhersehen. Und es wäre ihm auch möglich gewesen, die geforderte Handlung auszuführen.
  3. Durch genau dieses "Nichthandeln" hat er den Tod eines oder mehrerer Menschen verursacht.

Was bedeutet das übertragen auf die Flut im Ahrtal?

Hätte der damalige Landrat oder der weitere Beschuldigte die Bevölkerung früher warnen müssen? Hätte er den Katastrophenalarm ausrufen müssen, damit evakuiert wird? Dies könnte zum Beispiel die Handlung sein, zu der der Landrat verpflichtet war, die er aber trotz eindeutiger Hinweise am Nachmittag unterlassen hat.

Um 15.26 Uhr hatte das Landesumweltamt einen Pegelstand von 5,19 Meter prognostiziert. Die damalige Bürgermeisterin der Verbandsgemeinde Altenahr, Cornelia Weigand, hatte um 16.20 Uhr im Landratsamt angerufen und dazu aufgefordert, den Katastrophenalarm auszurufen. Stunden, bevor viele Menschen in den Wassermassen ihr Leben ließen. Erst um 23.09 Uhr wurde der Katastrophenalarm vom Kreis Ahrweiler ausgelöst und zur Teilevakuierung aufgerufen.

Die Staatsanwaltschaft muss im zweiten Schritt nachweisen, dass die Beschuldigten die Gefahr für die vielen Menschen durch diese Hinweise vorhersehen konnten. Also, dass ihnen bewusst war, dass es zu Todesfällen kommen kann, wenn der Katastrophenalarm nicht ausgerufen wird. Wenn nicht gewarnt und evakuiert wird.

Es braucht also den Nachweis, dass sie überhaupt die Möglichkeit hatten, die Ausmaße der anrollenden Katastrophe zu erfassen. Und dass es ihnen auch möglich war, zu diesem Zeitpunkt zu handeln.

Im dritten Schritt muss die Staatsanwaltschaft überprüfen, ob diese Warnungen, das Ausrufen des Katastrophenalarms auch tatsächlich Menschen gerettet hätte. Hätten diese von den Warnungen erfahren, hätte man sie noch evakuieren können? Hätte man überhaupt genau diese Menschen evakuiert?

Warum ist die strafrechtliche Bewertung schwierig?

Klar ist, dass bei der Flutkatastrophe im Ahrtal 135 Menschen gestorben sind. Ein von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenes Gutachten belegt auch, dass es erhebliche Mängel beim Katastrophenschutz gab.

Außerdem ist schnell nach der Flut klar geworden, dass der beschuldigte Landrat Jürgen Pföhler seine Verantwortung an dem Tag nicht wahrgenommen hat und nur für einen Fototermin überhaupt in der Einsatzzentrale war. Auch im Nachhinein hat er erklärt, dass er gar nicht zuständig gewesen sei.

Die Staatsanwaltschaft muss aber genau benennen können, dass die Voraussetzungen für eine Strafbarkeit vorliegen und vor allem die Verbindung zwischen konkreten Fehlern und den gestorbenen Personen nachweisen.

Ist das alles nicht offensichtlich?

Für eine spätere Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung reicht es nicht aus, zu sagen: Möglicherweise hätten noch Personen gerettet werden können. An jedem konkreten Menschen, der in der Nacht ums Leben gekommen ist, muss man überprüfen, ob die Person mit "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" noch leben würde.

Also zum Beispiel: Wäre eine frühere Warnung auch noch rechtzeitig bei dieser Person angekommen? Oder andersherum gefragt: Wären sie trotzdem gestorben?

Die Staatsanwaltschaft hatte im langen Ermittlungsverfahren zwischenzeitlich angedeutet, dass hier eine Hauptschwierigkeit des Verfahrens liegt. Auch das in Auftrag gegebene Gutachten hatte nicht benennen können, in welchem Umfang Menschen bei Idealbedingungen des Katastrophenschutzes gerettet worden wären.

Was ist mit der fahrlässigen Körperverletzung im Amt durch Unterlassen?

Die Voraussetzungen sind zunächst dieselben. Auch hier muss nachgewiesen sein, dass bestimmte Menschen nicht verletzt worden wären, wenn die Beschuldigten anders gehandelt hätten.

Könnten sich die Opfer gegen eine Einstellung des Verfahrens wehren?

Wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellen sollte, haben die Verletzen die Möglichkeit, ein sogenanntes Klageerzwingungsverfahren anzustrengen. Als "Verletzte" gelten in dem Verfahren auch die Angehörigen von Todesopfern. Voraussetzung für das Verfahren ist, dass die Verletzten bereits ihr Interesse an einer Strafverfolgung zum Ausdruck gebracht haben.

Wenn dem so ist, könnten sie innerhalb von zwei Wochen nach der Einstellung Beschwerde gegen diese einreichen. Über diese entscheidet in der Regel die Generalstaatsanwaltschaft.

Wenn die Beschwerde nicht erfolgreich ist, könnten die Verletzten innerhalb eines Monats einen Antrag beim Oberlandesgericht stellen. Dann entscheidet also ein Gericht - allerdings ohne ein Verfahren im Gerichtssaal - ob es die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung anders einschätzt als die Staatsanwaltschaft.

Wenn dies so wäre, würde das Gericht die Staatsanwaltschaft verpflichten, doch Anklage zu erheben. Erst dann würde es zu einem Strafprozess kommen.

Wer ist für die politische Bewertung zuständig?

Nicht alle Fehler, die Menschen begehen - mögen sie auch noch so tragisch und gravierend sein - sind vom Gesetz mit Strafe bedroht. Es gibt klare Regeln und hohe Hürden, um strafbares Verhalten nachzuweisen.

Unabhängig davon gibt es die Stufe der politischen Verantwortung. Um diesen Teil der Aufklärung hat sich der parlamentarische Untersuchungsausschuss im Landtag Rheinland-Pfalz bemüht. Der Abschlussbericht wird voraussichtlich in einigen Monaten vorliegen.