Gewalt gegen Frauen "Wir sollten den Blick auf den Täter richten"
Immer mehr Gewalt gegen Frauen: Familienrechtsanwältin Hedayati ist von der Normalität schockiert, mit der die Zahlen jedes Jahr präsentiert werden. Die Gründe, warum Männer zu Tätern werden, müssten genauer untersucht werden, sagt sie.
tagesschau24: "Erschreckend, unerträglich, beschämend": So haben die Ministerinnen Lisa Paus und Nancy Faeser die hohe Zahl an Gewalttaten genannt. Warum ist es so schwer, Frauen in unserer Gesellschaft vor Gewalt zu schützen?
Asha Hedayati: Dazu muss man ganz klar sagen, dass die Strukturen nicht nur die Gewalt verhindern, sondern sogar begünstigen. Die Zahlen steigen seit Jahren, seitdem sie erhoben werden, quasi jedes Jahr. Und jedes Jahr sind die Entscheidungsträger überrascht oder erschrocken darüber.
Mich schockiert tatsächlich eher die Normalität, mit der diese Zahlen jedes Jahr von Neuem vorgetragen werden und wie diese Gesellschaft, aber auch politische Entscheidungsträger die steigende Gewalt hinnehmen.
Asha Hedayati ist Autorin und Rechtsanwältin für Familienrecht. Sie engagiert sich für Betroffene häuslicher Gewalt und Stalkings.
"Wir müssen Armut bekämpfen"
tagesschau24: Sie selbst kennen viele solcher Fälle als Anwältin, in denen Frauen Opfer massiver Gewalt wurden. Trotzdem bleiben sie oft bei ihrem Mann. Wie ist das zu erklären, dass die Frauen sich nicht trennen?
Hedayati: Das sind tatsächlich immer diese Fragen, die ärgerlich sind. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt auf dem Verhalten der Frau: Warum hat sie sich nicht getrennt? Warum ist sie zu spät gegangen?
Wir sollten den Blick auf den Täter richten und uns fragen, warum er mit der Gewalt beginnt, warum er nicht aufhört und warum der Staat es nicht schafft, diese Gewalt zu verhindern.
Aber um ganz klar zu sagen, warum sie sich nicht trennt, müssen wir uns anschauen, dass wir wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse in diesen Partnerschaften haben. Die Betroffenen entscheiden sich bei einer Trennung häufig nur zwischen Gewalt oder Armut. Dann kommt hinzu, dass wir einen völlig eskalierten Wohnungsmarkt haben. Das heißt, Gewaltbetroffene haben teilweise gar nicht mehr die Möglichkeit, sich räumlich zu trennen, weil es gar keinen bezahlbaren Wohnraum mehr gibt.
42 Prozent der Alleinerziehenden in Deutschland sind von Armut betroffen. Das heißt, auch das müssen wir uns anschauen. Wenn wir Gewalt gegen Frauen bekämpfen wollen, müssen wir Armut bekämpfen. Denn die betrifft nicht nur die Frauen, sondern auch die Kinder. Das sind nur ein paar der strukturellen Ebenen, die wir uns anschauen müssen, wenn wir wirklich echte Prävention betreiben wollen.
"Es muss das Gewalthilfegesetz umgesetzt werden"
tagesschau24: Beim Thema Prävention geht es meistens auch um die Strafen der Täter. Die beschränken sich aber oftmals auf Kontakt- oder Näherungsverbote, was dann ignoriert wird. Sind diese Maßnahmen nicht abschreckend genug für die Täter?
Hedayati: Ich glaube, dass wir über Abschreckung nicht unbedingt weiterkommen. Ich glaube, die Perspektive sollte nicht darauf liegen, dass wir die Strafen verschärfen oder die polizeilichen Befugnisse unbedingt weiter vergrößern, sondern eine Gesellschaft schaffen, in der es gar nicht erst zu Gewalt kommt.
Das Strafrecht kommt erst dann zum Zug, wenn die Gewalt schon ausgeübt wurde. Aber das wollen wir ja verhindern. Wir wollen, dass es gar nicht mehr zu Gewalt kommt, damit Frauen nicht mehr in Frauenhäuser flüchten müssen. Denn auch das ist ein Verlust ihres Lebens. Sie geben viel auf, wenn sie in ein Frauenhaus flüchten. Das kann nicht die einzige Präventionsmaßnahme sein, die wir anbieten.
tagesschau24: Was müsste sich in der Gesellschaft ändern, um Frauen besser zu schützen?
Hedayati: Wir müssen parallel und gleichzeitig auf all diesen Ebenen arbeiten. Wir müssen mehr Frauenhausplätze schaffen. Es muss unbedingt das Gewalthilfegesetz umgesetzt werden. Die Istanbul-Konvention muss umgesetzt werden. Auch dazu hat sich Deutschland verpflichtet.
Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Haltung gegenüber der männlichen Gewalt gegen Frauen. Wir müssen problematische Männlichkeitsbilder dekonstruieren, und wir müssen bei den Jüngsten beginnen. Wir müssen da auch an die Geschlechterrollen ran, an die Bildung. Wo beginnt die Gewalt, wo sind meine Grenzen? Das ist sehr facettenreich. Wir müssen auf sehr vielen Ebenen ansetzen und die Gewalt bekämpfen.
Das Gespräch führte Romy Hiller, tagesschau24. Für die schriftliche Version wurde es redigiert.