Patienten warten im Wartezimmer einer Arztpraxis
interview

Gewalt in Arztpraxen "Es hat manchmal gar nichts mit uns zu tun"

Stand: 13.08.2024 19:52 Uhr

Die Bundesärztekammer spricht von einer "Verrohung im Umgang mit medizinischem Personal". Allgemeinärztin Maria Hummes hat in ihrer Praxis selten Gewalt erlebt - beobachtet aber einen zunehmenden Egoismus bei Patienten.

tagesschau.de: Die Bundesärztekammer berichtet, dass es eine Verrohung im Umgang mit medizinischem Personal gibt. Können Sie diese Beobachtungen teilen?

Maria Hummes: Am Rande. Ich glaube, in hausärztlichen Praxen ist das noch nicht so präsent, weil es der Bereich ist, der noch am meisten von persönlichen Beziehung lebt. Körperliche Gewalt ist bei uns eine große Ausnahme, das hatten wir in den 23 Jahren, in denen ich in der Praxis bin, höchstens zwei, drei Mal. Was man aber schon merkt, ist, dass verbale Entgleisungen häufiger sind als früher.

Zur Person

Maria Hummes ist Fachärztin für Allgemeinmedizin. Seit 23 Jahren arbeitet sie in der Hausarztpraxis Hamburg-Langenhorn. Zuvor hat sie bereits zehn Jahre lang klinische Erfahrungen gesammelt, unter anderem als Psychotherapeutin.

Deeskalierender Ton bei den Mitarbeitern

tagesschau.de: Was war die gravierendste Situation, die Sie in der Praxis erlebt haben?

Hummes: Vor ungefähr fünf Jahren ist einer richtig ausfällig geworden, da ist dann auch ein Spiegel und ein Stuhl kaputt gegangen. Er ist auf uns losgegangen, aber wir konnten ihn mit Deeskalationsmaßnahmen beruhigen, sodass es nicht zu irgendwelchen körperlichen Schäden gekommen ist. Das war aber schon recht heftig - die gefährlichste Situation, die ich erlebt habe.

Insgesamt versuchen wir, einen deeskalierenden Ton bei unseren Mitarbeitern zu etablieren. Das hat bisher relativ gut funktioniert. Wir haben einfach ein tolles Team, das von vornherein dafür sorgt, dass es nicht eskaliert. Wenn sie mitbekommen, dass es mit einem Patienten zu einer kritischen Situation kommen könnte, gehen sie immer zu zweit in den Behandlungsraum.

Polizeiwache fünf Minuten entfernt

tagesschau.de: Sie haben gerade Deeskalationsmaßnahmen angesprochen - wie wird das Praxisteam denn dafür geschult?

Hummes: Mein Kollege, mit dem ich lange zusammengearbeitet habe, und ich sind beide Psychotherapeuten. Dadurch haben wir schon mal eine langjährige Weiterbildung, etwa was Gesprächsführung angeht. Wir machen mit den Mitarbeitern außerdem Fortbildungen für solche Situationen und Teambesprechungen, in denen wir kritische Fälle nochmal durchgehen.

Wir haben außerdem den Vorteil, dass die Polizeiwache nur fünf Minuten entfernt ist. Also ist klar, wenn wir jetzt anrufen, dann kommt die Polizei auch sofort. Und aggressive Patienten bekommen dann ein Hausverbot.

Wunsch nach mehr Schmerzmitteln

tagesschau.de: Kassenärzte-Chef Andreas Gassen hat davon gesprochen, dass viele Patienten "eine schräge Einschätzung von der eigenen Behandlungsdringlichkeit" haben. Was waren die Auslöser für die Vorfälle in ihrer Praxis?

Hummes: In unseren Akutsprechstunden erleben wir auch, dass es Diskrepanzen in der Einschätzung gibt. Aber anders als in der Notfallversorgung leben wir im hausärztlichen Bereich von den langjährigen Beziehungen: Wir kennen unsere Patienten, die vertrauen uns.

Was häufig zu Auseinandersetzungen führt, ist der Wunsch nach Betäubungsmitteln. Das können zum Beispiel Junkies sein, die sicherlich auch chronisch krank sind, aber mehr oder andere Schmerzmittel haben wollen als die, die wir nach medizinischen Aspekten vertreten können.

Unendlich viel Diagnostik im Internet

tagesschau.de: Sie sagten eingangs, sie hätten auch öfter verbale Ausfälle erlebt. Was sind das für Fälle?

Hummes: Einige Patienten haben konkrete Vorstellungen davon, welche Untersuchungen sie haben möchten und machen dann Druck. Das Problem ist, dass man in der Medizin unendlich viel machen kann und dass im Internet unendlich viel Diagnostik für bestimmte Symptome auftaucht.

Aber wir machen unsere Diagnostik ja von den therapeutischen Entscheidungen abhängig. Wenn jemand ein MRT von seinem Knie fordert, sich aber sowieso niemals operieren lassen möchte, dann ist das MRT erstmal nicht so wichtig. Die nächsten Maßnahmen sind in der Regel unabhängig vom MRT dieselben. Wenn aber die Erwartung das ist: 'Wenn mein Knie schmerzt, muss ich ein MRT haben', dann kann darüber ein Streit entstehen.

Wenn ich die Patienten aber gut kenne, dann wissen sie auch: Wenn ich etwas wirklich brauche, dann bekomme ich das auch. Und ich kann ihnen auch erklären, dass wir nicht unendlich Ressourcen zur Verfügung haben. Wenn jeder immer alles machen lassen könnte, dann wäre das von unserem Gesundheitssystem nicht finanzierbar.

Und die eigene Bedürftigkeit wird oft viel stärker wahrgenommen als die Zusammenhänge: All die Untersuchungen verbrauchen Energie, machen Müll und kosten Geld. Das muss man in der heutigen Zeit mit im Kopf haben, wenn man als Ärztin Entscheidungen trifft.

Belastung für Mitarbeiterinnen am Empfang

tagesschau.de: Wer hat in Situationen, in denen es solche Ausfälle gibt, besonders darunter zu leiden?

Hummes: Für unsere Mitarbeiterinnen am Empfang, die sich immer alles anhören müssen, ist das schon eine deutliche Belastung. Deshalb versuchen wir auch viel dafür zu tun, dass es sich nicht zu sehr auf ihre Arbeitssituation auswirkt.

Professionelle Distanz wahren

tagesschau.de: Und was macht das mit Ihnen als Ärztin im Alltag?

Hummes: Als Psychotherapeutin habe ich gelernt, eine professionelle Distanz zu wahren. Die Lernphase war mühsam, aber inzwischen fühle ich mich davon persönlich nicht angegriffen, weil ich weiß, dass es an der Situation liegt und mit meiner Person nichts zu tun hat.

Patienten unter Druck

tagesschau.de: Haben die Patienten, die besonders aggressiv werden, etwas gemeinsam?

Hummes: Ich kann jetzt nicht sagen, dass es nur Männer oder nur Frauen sind. Die soziale Herkunft ist auch nicht ausschlaggebend. Ich glaube, es sind Leute, die unter Druck stehen, egal aus welchen Gründen.

Es hat manchmal gar nichts mit uns zu tun. Vielleicht war der Arbeitstag schlecht, man wurde vom Chef fertiggemacht und dann kriegt man diese blöde Behandlung nicht. Dann ist die Reizschwelle erreicht und es kommt zu einem Ausbruch. Aber je entspannter jemand ist, umso weniger neigt er dazu, unflätig auf den Tisch zu hauen.

Weniger Gemeinschaftsstrukturen

tagesschau.de: Wie erklären Sie es sich denn dann, dass aggressives Verhalten in den vergangenen Jahren zugenommen hat?

Hummes: Ich glaube, dass es viel weniger Bereiche gibt, in denen soziales Miteinander geübt wird. Die Leute bewegen sich auf ihren Internetplattformen und in ihrer Handywelt, es gibt weniger Gemeinschaftsstrukturen. Ich glaube, dass wir in diesem Bereich soziale Verantwortung wieder mehr in den Fokus nehmen sollten, um die Mentalität 'Ich bin der, um den es geht und ich muss mich gegen alle durchsetzen' etwas abzuflachen.

Nicht nur in eigener Blase bewegen

tagesschau.de: Was glauben Sie, was gegen solche Aggressionen helfen kann?

Hummes: Was immer hilft, ist, wenn Leute wieder lernen, miteinander zu reden, Gemeinschaftserlebnisse zu haben - aus unterschiedlichsten Zusammenhängen heraus. Wenn man sich nicht nur in seiner Blase bewegt, sondern wenn soziale Dialoge gefördert werden.

Und vielleicht auch mal Streitgespräche lernen, lernen, dass man Konflikte lösen kann. Soziale Verantwortung hat für unsere Gesellschaft einen ganz hohen Stellenwert.

Das Gespräch führte Melisa Job für tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 13. August 2024 um 18:00 Uhr.