Ethiker zu Priorisierung "Wenn der Impfneid kommt, positiv denken"
Wenn um einen herum immer mehr Leute geimpft werden, ist es schwer, die Ruhe zu bewahren. Moraltheologe Bormann erklärt im Interview, wie man das trotzdem schafft - und warum es nach wie vor die Priorisierung braucht.
tagesschau.de: RKI-Vizepräsident Lars Schaade hat in der vergangenen Woche zur Solidarität mit den noch Ungeimpften aufgerufen. Nachdem sich in der ersten Phase der Pandemie viele jüngere Menschen stark eingeschränkt hätten, um Ältere zu schützen, müssten sich jetzt alle weiter einschränken, um auch die Jüngeren noch zu schützen. Sehen Sie das auch so?
Franz-Josef Bormann: Solidarität ist immer wichtig, nicht nur zwischen Jungen und Alten, sondern auch in andere Richtungen, weil die Lasten in dieser Pandemie so unterschiedlich verteilt sind. Allerdings müssen Solidarität und die Pflichten, die damit verbunden sind, immer auch einen Sachgrund haben. Es hilft also nicht zu sagen, jeder muss mit jedem solidarisch sein und es darf keine Veränderung geben.
tagesschau.de: Aus Fairness-Gründen die Einschränkungen für alle gleichermaßen aufrecht zu erhalten, bis alle ein Impfangebot erhalten haben, wäre falsch?
Bormann: Ja, das lehne ich ab. Das wäre der Missbrauch des Solidaritätsargumentes. Es ist eine doppelte Differenzierung notwendig: Zum einen muss - so lange Impfstoffknappheit herrscht - nach dem Grad der jeweiligen Gefährdung priorisiert werden. Und aus den gleichen Gründen muss, wenn der Sachgrund für die Priorisierung irgendwann entfällt, auch umgekehrt klar sein, dass die Leute wieder von ihren Bürgerrechten Gebrauch machen können. Alles andere wäre meines Erachtens auch mit unserer Rechtsordnung nicht vereinbar.
"Verständlich, dass wir ungeduldig sind, aber..."
tagesschau.de: Viele machen im Moment die Erfahrung, dass Menschen im Bekanntenkreis bereits geimpft sind, obwohl kein triftiger Grund vorliegt. Sollte man die Priorisierung nicht gleich ganz aufheben, wenn sie anscheinend ohnehin oft umgangen wird?
Bormann: Das ist in der Tat ein Problem. Ich würde unterscheiden zwischen den menschlich verständlichen Reaktionen, dass wir ungeduldig sind und so schnell als möglich geimpft werden möchten, und der ethisch gebotenen Priorisierung nach dem Gefährdungsgrad.
Wenn es diese Formen der Umgehung gibt, dann muss man sich die genau angucken. Wenn es beispielsweise Fälle sind, in denen Impfstoff übrig war und verimpft worden ist, ist das natürlich in Ordnung.
Aber man muss unterscheiden: Einerseits gibt es eine wohl begründete Priorisierung der Impfreihenfolge und andererseits gibt es bürokratische Probleme bei der Umsetzung dieser Priorisierung. Das heißt, wir sollten darüber nachdenken, wie wir die Impflogistik besser organisieren, um solche Pannen zu vermeiden. Viele administrative Details der gegenwärtigen Impfpraxis sind schlecht organisiert und verdunkeln die unter Knappheitsbedingungen ethisch gebotene Priorisierung nach validen Kriterien, die auch eingehalten werden sollten.
"Man kann den Blick auch ins Positive wenden"
tagesschau.de: Wie geht man denn damit um, wenn man das Gefühl hat: Alle suchen sich irgendein Schlupfloch, nur ich bleibe auf der Strecke?
Bormann: Zunächst mal sollte man sich die Fakten anschauen. Auch wenn es diese Fälle von Missbrauch zweifellos gibt: Die große Mehrheit der Menschen ist nach wie vor nicht geimpft.
Wenn dieser Impfneid aufkommt, kann man sich aber auch fragen: Was habe ich denn davon, wenn Geimpfte ihre Freiheit nicht zurück haben dürfen? Das beeinträchtigt mich ja nicht. Man kann den Blick auch ins Positive wenden und sagen: Ich warte auf meinen Impftermin und freue mich mit denen, die schon geimpft sind und so die Impfkampagne vorangetrieben haben.
"Unseriöse populistische Politik"
tagesschau.de: Wenn man Markus Söder zuhört, scheint es ja gerade ganz gut zu laufen...
Bormann: Diesen Wettstreit mancher Politiker um gute Schlagzeilen finde ich unglücklich. Es geht offenbar darum, wer als erster das Ende des leidigen Wartens auf die eigene Impfchance verkündet. Das ist unseriöse populistische Politik, mit der niemandem geholfen ist.
Selbst wenn die priorisierten Gruppen in ein paar Wochen durchgeimpft sein werden, bleibt immer noch eine große Gruppe übrig, deren Impfung ebenfalls organisiert werden muss. Und die können nicht binnen 14 Tagen geimpft werden. Denen muss man ganz klar sagen, dass sie noch eine Weile Geduld haben müssen. Und jeder Politiker, der sich hinstellt und das Gegenteil behauptet, trägt dazu bei, dass das Unbehagen und die Ungeduld in der Bevölkerung noch weiter anwachsen.
"Jeder kann sich überlegen: Beteilige ich mich an diesem Run?"
tagesschau.de: Wenn nun die Priorisierung im Juni aufgehoben wird, wie es Angela Merkel angekündigt hat, kommt dann nicht eine Art Sozialdarwinismus zum Tragen: Wer stärker beziehungsweise schlauer und umtriebiger ist, kommt als erstes zum Zug?
Bormann: Es wird dann in jedem Fall einen Run auf den verfügbaren Impfstoff geben, nach dem Prinzip "first come, first served". Das birgt natürlich eine Gefahr, aber ich würde auch hier nicht überdramatisieren. Jeder kann ja für sich überlegen: Beteilige ich mich an diesem Run oder lasse ich eventuell die Schülerinnen und Schüler oder andere besonders belastete Berufsgruppen, die viel dringender den Impfschutz benötigen, um etwa ihrem Beruf wieder ausüben zu können, vor. Dann wäre es dem Anstand jedes einzelnen Individuums überlassen, wie es sich verhält.
Das andere Szenario wäre: Auch diese Phase der Impfung, die ja noch einige Monate dauern wird, muss nochmal strukturiert werden. Denn auch in diesem überschaubaren Zeitraum kann nur eine bestimmte Anzahl von Personen zeitgleich geimpft werden und die anderen müssen sich noch ein wenig gedulden. Die Politik hat hier jetzt die Aufgabe, ganz klar zu kommunizieren, auf welches Szenario sich die Bürger einstellen müssen. Die bisherige Kommunikationsstrategie der Politik könnte hier sicher noch verbessert werden.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.