Eine Schulanfängerin meldet sich mit Mund-Nasen-Schutzmaske in der Unterrichtsstunde an einer Grundschule.
interview

Familien im Corona-Stress "Zum dritten Mal in einer Chaos-Situation"

Stand: 23.01.2022 15:09 Uhr

Auch durch Schulen und Kitas schwappt die Omikron-Welle. Eltern haben kaum Möglichkeiten, ihr Kind vor einer Infektion zu schützen. Der psychische Stress ist enorm, sagt Pädagoge Baumann. Die Politik habe versäumt, Schulen sicher zu machen.

tagesschau.de: An Schulen und Kitas steigen die Infektionszahlen rasant. Wie stressig ist die aktuelle Situation für Eltern und Kinder?

Menno Baumann: Eltern und Kinder stehen gerade mal wieder unter einem extrem hohen Druck. Einerseits ist da die Angst, dass Schulen und Kitas wieder schließen könnten oder aber auch, dass man in eine Endlosschleife von Quarantänen gerät. Andererseits aber eben auch das damit verbundene Chaos vor Ort. Schule ist ja nur dann stabilisierend, wenn sie verlässlich dazu beiträgt, dass Rhythmus, Bildungsinhalte und soziale Kontakte ermöglicht werden. Dieses ständige Hin und Her bedrückt: Etwa die Angst, sofort nach Hause zu müssen, wenn ich positiv getestet bin - sofort ist das ganze Leben für die nächsten Tage völlig anders.

Und die Eltern müssen das organisieren: 8.30 Uhr bei der Arbeit, dann kann der Anruf kommen, dass das Kind positiv ist und man muss am Arbeitsplatz alles stehen und liegen lassen. Die Situation von ungeschützten Schulen, in denen das Virus durchläuft und gleichzeitig keine klare Linie, was man tun kann, um sich zu schützen - sowohl die familiäre Struktur wie vor dem Virus - das ist maximal belastend.

Menno Baumann
Menno Baumann
Menno Baumann lehrt Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf. Zudem ist er Bereichsleiter und Fachberater im Leinerstift, einer evangelischen Einrichtung der Kinder- Jugend- und Familienhilfe. Baumann ist Mitinitiator eines interdisziplinären Schutzkonzepts von Pädagogen, Medizinern und Kinder- und Jugend-Psychologen sowie -Psychotherapeuten, Maßnahmen des Infektionsschutzes und Kinderschutzes stärker zusammen zu denken.

tagesschau.de: Was macht die Quarantäne noch belastender als die Schul- und Kitaschließungen während des Lockdowns?

Baumann: Bei Quarantäne war ich unmittelbar im Kontakt mit dem Virus. Das ist was völlig anderes als zuhause zu bleiben, weil irgendwo anders Zahlen in die Höhe schießen. Und Lockdown-Maßnahmen trafen immer mit Ankündigung und Vorlauf ein - man hat eine Phase zum Einschwingen. Quarantäne trifft einen unmittelbar direkt von einem Tag auf den anderen. Und der Grad der Isolation unter Quarantänebedingungen ist viel höher. Es hängt dann stark von der eigenen sozialen Infrastruktur ab, ob ich in der Quarantäne klar komme oder nicht.

tagesschau.de: Hätte die Politik die Lage ändern können?

Baumann: Wir sind jetzt zum dritten Mal in einer Chaos-Situation. Das politische Versagen dazu passierte bereits im Sommer, wo wir die Infrastruktur hätten aufbauen können, die wir jetzt gebraucht hätten. Wir haben immer wieder angemahnt, alles, was an Infektionsschutz möglich ist, in Schulen aufzubauen Das wurde nicht gemacht. Es gab den Minimalkonsens des Testens und Maske Tragens - aber viele andere Maßnahmen wurden nicht vorbereitet, die viel niedrigschwelliger gewesen wären und guten Schutz geboten hätten.

tagesschau.de: Was fehlte an Vorbereitung?

Baumann: Etwa Kohortierungskonzepte wie man schnell in kleine Gruppen einteilt, um das Infektionsrisiko allein rein mathematisch zu senken. Es ist ein Riesenunterschied, ob ich über verschiedene Lehrer im Grunde mit allen Tausend Schülern der Schule verbunden oder in meiner kleinen festen Gruppe bin. Oder Schulwegkonzepte: Was hilft das beste Schulkonzept, wenn alle morgens mit Hundert anderen Leuten in den öffentlichen Verkehrsmitteln zusammenkommen. An solchen Dingen haben wir nicht gearbeitet. Es wurden keine verlässlichen Strukturen für Onlineunterricht aufgebaut, weil man dahin nicht zurück wollte. Das kann man nicht wollen, aber die Realität zeigt gerade etwas anderes.

"Hohe Infektionsdynamik erzeugt allein schon Stress"

tagesschau.de: Was kann man jetzt tun?

Baumann: Problematisch ist, dass wir immer so tun, als hätten wir die Wahl zwischen Infektionsschutz oder psychischem Stress. Fakt ist aber, eine hohe Infektionsdynamik wie wir sie jetzt gerade haben, ist auch psychischer Stress - das sehen wir auch in Studien im internationalen Vergleich. Wir müssen beides zusammen denken: Schutz vor Infektion und vor zu hoher psychischer Belastung - also der Aufbau von Schulsozialarbeit und sicheren Kontaktmöglichkeiten: Wo sich Kinder trotzdem sicher treffen können, wenn eine solche Phase mit hohen Inzidenzen ansteht.

tagesschau.de: Können Sie die Politik auch verstehen, die Schulen und Kitas offen halten, weil man weiß, dass die Schließzeiten bei einigen Kindern und Jugendlichen auch zu psychischen Schäden geführt haben?

Baumann: Es gibt keine Zweifel daran, dass die Schulen offen bleiben sollten. Wobei man sagen muss, dass Kinder nicht nur durch das Thema Schule belastet sind, sondern durch die Pandemie selbst. Wenn ich mir anschaue, wie viele Kinder in den USA einen Elternteil durch Corona verloren haben, sind wir hierzulande mit einem blauen Auge davon gekommen.

Es geht nicht um die Entscheidung: Schulen auf oder zu. Es geht darum, Schulen sicher zu machen. Wir müssen sie so ausstatten, dass die Kinder mit einem guten Gefühl in die Schulen gehen können.

tagesschau.de: Was kann man in dieser Chaos-Situation als Eltern tun, um Kinder zu schützen?

Baumann: Für Eltern ist der Faktor der familiären Stabilität ganz wichtig zu erhalten. Im Lockdown hat den Kindern unter anderem große Probleme bereitet, wenn die Tagesstruktur zusammen gebrochen war. Wichtig sind Rituale, feste Abläufe und gemeinsame Mahlzeiten. Und aus der Traumapädagogik weiß man: 'Viel Freude trägt viel Belastung'. Es hilft, mit den Kindern schöne Dinge zu unternehmen, miteinander zu spielen - aber auch viel zu sprechen und die Sache ehrlich erklären. Und mit den Kindern offen im Austausch darüber sein, was sie ärgert - und auch die Eltern. Da können die Eltern ihre Kinder ein Stück weit durch tragen.

Ganz wichtig ist eben auch - und das wäre eine letzte politische Forderung: Existenzhärten abzufedern bei Familien, die pandemiebedingt davon betroffen sind. Denn Armut und Existenzängste der Eltern belasten Kinder ungemein. Wir müssen als Staat diesen Familien helfen, durch diese Zeit zu kommen.

"Wir sollten keine massenhafte Infektionen riskieren"

tagesschau.de: Nicht alle Kinderärztinnen und -Ärzte halten Omikron für harmlos. Was können Eltern tun, um Kinder in dieser Situation mit Regelbetrieb an Schulen und Kitas vor einer Infektion zu schützen?

Baumann: Das ist schwierig, wenn Kinder mit Präsenzpflicht in ungesicherte Schulen geschickt werden. Im privaten Umfeld sollte man sich zwar nicht isolieren, aber Kontakte in einem kleinen verlässlichen Netzwerk überschaubar halten. Sonst kommt man in eine Kettenreaktion.

Und bei der Gefährlichkeit des Virus ist nicht auszuschließen, dass uns da noch Überraschungen erwarten - ohne dass wir es jetzt schon wissen können, ob es zu einem Riesenproblem für Kinder werden kann. In England zeigen Studien, dass das Virus auch das Gehirn von Kindern verändern kann, wenn auch ohne Symptome bisher. Da wir darüber noch zu wenig wissen, genauso wie über Long Covid bei Kindern, sollten wir keine massenhafte Infektionen riskieren.

tagesschau.de: Was folgt daraus?

Baumann: Ich bin ein Vertreter von Kinderimpfungen. Und wir sollten besonders Kinder schützen, wo es geht - gerade die Kleineren, solange es noch nicht zugelassene Impfstoffe für alle Altersgruppen gibt. Wir kennen noch keine Langzeitfolgen der Virusinfektion, aber wir sollten Kinder dieser Gefahr nicht einfach so aussetzen.

Das heißt auch für den Rest der Gesellschaft sich anzustrengen, dass die Inzidenzen so niedrig wie möglich bleiben. Wir müssen den Jüngeren, die viel zurückgesteckt haben, auch etwas zurückgeben - gerade, damit Schulen offen bleiben können.

Das Interview führte Corinna Emundts, tagesschau.de