Kirchenaustritte nehmen zu Wer raus will, braucht Geduld
Raus aus der Kirche? Das ist gerade gar nicht so leicht. Die Ämter kommen mit Terminen vielerorts kaum hinterher. Das Münchner Missbrauchsgutachten dürfte den Trend zum Austritt weiter verstärken.
"Ich habe lange darüber nachgedacht", sagt Florian Beisenbusch in Essen. "Ich habe mich der Kirche zugehörig gefühlt. Aber seitdem die Vorwürfe im Raum standen, habe ich mich vor wenigen Monaten entschieden, auszutreten", sagt er mit Blick auf die Missbrauchsskandale.
Damit ist Beisenbusch nicht allein. Die Austrittszahlen haben sich in Essen im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. 4145 Kirchenaustritte bedeuten einen neuen Rekord in 2021, 2020 waren es insgesamt 2809.
Wer austreten will, muss wie Beisenbusch zum Amtsgericht gehen. Alle Termine für einen Kirchenaustritt in Essen sind aber bis März ausgebucht.
Zahl der Austritte auf Höchststand
Für den Austritt haben sich in Nordrhein-Westfalen im vergangenen Jahr 155.322 Menschen entschieden. Das sind so viele wie noch nie in der bis 2011 zurückreichenden Statistik des Justizministeriums. "Anlass für mich waren die wiederholten Missbrauchsvorwürfe", erklärt Beisenbusch. "Auch der Umgang damit durch die katholische Kirche und der Verantwortlichen in der katholischen Kirche waren Gründe dafür."
Der Austritt erfolgt in Nordrhein-Westfalen durch Erklärung entweder beim Amtsgericht oder bei einem Notar. Eine Austrittserklärung in einfacher Schriftform ist nicht möglich. Sie muss persönlich abgegeben werden. Nach Gründen wird nicht gefragt. Für den Termin braucht es einen gültigen Pass. Beim Amtsgericht kostet das 30 Euro, beim Notar kann es teurer werden.
Auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit?
Der katholische Kirchenrechtler Thomas Schüller von der Universität Münster sagt, es sei derzeit nicht zu erkennen, wie die Talfahrt der Kirchen noch gestoppt werden könnte. "Die katholische Kirche rast mit diesen Zahlen in den Abgrund ihrer Bedeutungslosigkeit", sagt Schüller. "Die katholische Kirche in ihrer bekannten Sozialgestalt stirbt ohne Hoffnung auf Wiederkehr."
In Deutschland gab es laut Zählungen der Evangelischen Kirche im Jahr 2020 mehr als 42 Millionen Menschen, die in der evangelischen oder der katholischen Kirche sind. Damit waren 51 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in einer der beiden Kirchen organisiert. 2019 waren es noch 52,1 Prozent, im Jahr 2018 waren es 53,2 Prozent. Wie die Kirche seit Jahren mit den Fällen von Missbrauch umgehe, sagt Schüller, habe sie in so eine existenzielle Krise geführt.
Ein Ort der Gemeinschaft
So hart sieht das Pia Kretschmer nicht. Die 18-Jährige aus Essen ist Mitglied in der katholischen Kirche. Allerdings findet sie: "Was sich die Kirche gerade leistet, da weiß man selbst nicht mehr, ob man das noch weiter unterstützen möchte." Gleichzeitig betont sie, welche Bedeutung Kirche für viele Menschen habe. "Es ist auch ein Ort der Gemeinschaft, wo ich viele meiner Freunde kennengelernt habe. Es gibt Jugendgruppen, es gibt die Pfadfinder. Auszutreten wäre ein großer Schritt, weil ich ein Teil davon war."
Nach der Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens in Bayern bereitet sich die Stadt München auf mehr Kirchenaustritte vor. Sie hat ihre Kapazitäten verdreifacht. In Bayern erfolgt der Austritt beim Standesamt, das in München seine Öffnungszeiten erweitert und weitere Beschäftigte nur für die Austritte abstellt.
Die Kirchen verlieren seit Jahren kontinuierlich an Mitgliedern. So ging etwa in Bayern der Anteil der katholischen und evangelischen Kirchenmitglieder von 65,4 Prozent in 2019 auf 64,1 Prozent in 2020 zurück. In Rheinland-Pfalz gab es einen Rückgang von 65,8 auf 64,6 Prozent.
Geduld für Austrittstermin
In Köln musste Jürgen Beaugrand geduldig sein, um einen Termin beim zuständigen Amtsgericht zu bekommen. "Eigentlich hatte ich das schon vor einem Jahr beschlossen. Man kriegt da ganz schlecht einen Termin.". Auf der Homepage des Gerichts steht auch heute wieder: "Leider stehen in den kommenden Wochen für die ausgewählte Dienstleistung keine Termine mehr zur Verfügung."
Beaugrand bekam durch Zufall kurzfristig doch noch einen Termin. "Wegen der aktuellen Vorfälle fühle ich mich noch einmal bestätigt." Das alles widere ihn nur noch an, sagt er mit Blick auf die Missbrauchsskandale und das Verhalten der Kirchen.
Kirchenrechtler Schüller sieht großen Reformbedarf. Er plädiert für eine unabhängige Kommission, die das gesamte Feld des Missbrauchs aufarbeitet. Damit den großen christlichen Kirchen die Mitglieder nicht weiter in Scharen davon laufen.
Als Reaktion auf das Münchner Missbrauchsgutachten bietet das Bistum Regensburg sein "Austrittstelefon" nun außer der Reihe an. Normalerweise läuft die Aktion immer im Sommer begleitend zur Veröffentlichung der Kirchenaustrittszahlen. Doch in den vergangenen Tagen hätten sich viele Menschen mit Mails und Anrufen gemeldet, teilte die Diözese mit. "Die meisten waren empört und irritiert wegen der Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum München Freising und den Nachrichten über den emeritierten Papst Benedikt XVI." Man habe den Eindruck, der Gesprächsbedarf sei groß.