Missbrauchsgutachten in Mainz "In welchen Abgrund werden wir blicken?"
In Mainz wird heute das Missbrauchsgutachten des Bistums vorgestellt. Die Untersuchung will vor allem die innerkirchlichen strukturellen Ursachen in den Blick nehmen. Im Mittelpunkt dürfte die Person Kardinal Lehmann stehen. Von Ulrich Pick.
In Mainz wird heute das Missbrauchsgutachten des Bistums vorgestellt. Die Untersuchung will vor allem die innerkirchlichen strukturellen Ursachen in den Blick nehmen. Im Mittelpunkt dürfte die Person Kardinal Lehmann stehen.
Wenn es um die Aufarbeitung von Missbrauch in der katholischen Kirche geht, gilt Ulrich Weber als Instanz. Der Regensburger Rechtsanwalt erntete 2016 mit seinem Gutachten über körperliche und sexuelle Gewalt bei den "Regensburger Domspatzen" viel Zuspruch und Anerkennung. Heute legt er eine Studie über Missbrauch im Bistum Mainz vor, zu der ihn 2019 Bischof Peter Kohlgraf beauftragt hatte.
Die Untersuchung, die den Titel "EVV - Erfahren, Verstehen, Vorsorgen" trägt, will die Ursachen der kirchlichen Gewalttaten nicht juristisch, sondern systemisch beleuchten. Mit anderen Worten: Es soll der Frage nachgegangen werden, welche strukturellen Merkmale innerhalb des Bistums den sexuellen Missbrauch und seine Vertuschung begünstigt haben.
Stellvertretend für diese Vorgehensweise hat Weber in der Einladung zur heutigen Pressekonferenz zwei zentrale Fragen gestellt: "Wie kann es sein, dass die Bistumsleitung trotz klarer Indizien für eine Täterschaft Priestern ein unerschütterliches Vertrauen entgegenbringt?" und "Wie kann es sein, dass das Umfeld von Betroffenen sexuellen Missbrauchs die Taten mit ansonsten 'gutem seelsorgerischen Wirken' aufwiegen und relativieren?"
Täter geschützt - Opfer vernachlässigt?
Personell dürften im Mittelpunkt des Gutachtens die beiden verstorbenen Mainzer Kardinäle Hermann Volk und Karl Lehmann stehen. Sie leiteten die Diözese von 1962 bis 1982 sowie von 1983 bis 2016 und bekamen bei einem Zwischenbericht Webers im Herbst 2020 bereits "Fehlverhalten im Umgang mit Vorfällen sexualisierter Gewalt" attestiert.
Der Regensburger Jurist sprach davon, dass die Bistumsleitung wiederholt Täter geschützt und die Opferperspektive vernachlässigt habe: "Eine häufige Reaktion auf Missbrauchsfälle war die Versetzung in eine andere Pfarrei." Kleriker seien weiter eingesetzt worden, obgleich "pädophile Neigungen schon Stadtgespräch waren".
Großes Augenmerk auf Kardinal Lehmann
Besonderes Interesse dürfte das Verhalten von Kardinal Lehmann hervorrufen. Der langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz genoss zeitlebens sowohl theologisch als auch menschlich ein tadelloses Image. Zudem gilt er bis heute in Mainz als eine Art "Lokalheiliger". Zwar hatte er 2002 im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch in den Bistümern der USA davon gesprochen, dass sich die katholische Kirche in Deutschland "den Schuh der Amerikaner nicht anziehen" müsse, ruderte aber 2010 heftig zurück. Seine vormaligen Äußerungen, so sagte er damals, seien "so unklug wie falsch" gewesen.
In einem Essay für die "FAZ" schrieb er zudem: "Wir dürfen uns als Kirche nicht wundern, wenn wir streng (…) an jenen Kriterien gemessen werden, mit denen die Kirche sonst ihre sittlichen Überzeugungen vertritt, besonders der Sexualität. Die aufgedeckten Missbrauchsfälle wirken hier wie ein Bumerang." Trotz dieser deutlichen Worte wusste man aber im Bistum Mainz stets auch, dass Kardinal Lehmann lieber auf großen Theologiesymposien gastierte, als sich um jeden "Vorfall" im Bistum zu kümmern.
Blick in den Abgrund befürchtet
Lehmanns Nachfolger Kohlgraf beteuert, die Ergebnisse der der Weber-Studie nicht zu kennen. Er verspricht sich von dem Gutachten einen "Schritt der Aufarbeitung massiven Unrechts". Zudem sagte er am Aschermittwoch während einer Predigt im Mainzer Dom: "Viele Menschen haben eine Seite der Kirche erlebt, die unerträglich ist." Sein Weihbischof Udo Markus Bentz spricht mit Blick auf die Missbrauchsstudie von einem "mulmigen Gefühl" und fragt: "In welchen Abgrund werden wir blicken müssen?"