Passanten auf dem Marienplatz in München.
Interview

Oster-Lockdown "Eine Bremse - und zwar sofort"

Stand: 23.03.2021 16:46 Uhr

Eine Ruhepause über Ostern werde nicht viel ausrichten, meint Epidemiologe Reintjes im tagesschau.de-Interview. Er hätte sich sofort strengere Maßnahmen gewünscht - nur so wäre das exponentielle Wachstum aufzuhalten.

tagesschau.de: Können die Beschlüsse von gestern das exponentielle Wachstum der Ansteckungen stoppen?

Ralf Reintjes: Das halte ich nicht für wahrscheinlich. Im Grunde verändert sich ja erstmal nichts, sondern im Wesentlichen bleibt bis Ostern alles wie bisher - und erst danach wird es für fünf Tage stärkere Einschränkungen geben. Das heißt in den neun Tagen bis dahin wird die Kurve vermutlich genauso steigen wie bisher. Alle Modelle kommen da zu sehr ähnlichen Ergebnissen, nämlich dass es - wenn wir nicht grundlegend etwas anders machen - zu einer weiteren kontinuierlichen Steigerung kommt.

Ralf Reintjes
Zur Person
Ralf Reintjes ist Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählt die Überwachung von und Vorbereitung auf Pandemien.

tagesschau.de: Das heißt, trotz Verlängerung des Lockdowns wird das Wachstum nicht gebremst und die prognostizierte Sieben-Tage-Inzidenz von 200 oder 300 um Ostern bleibt wahrscheinlich?

Reintjes: Die prognostizierten Inzidenzwerte variieren, aber alle Modelle sehen eine weitere Steigerung. Was spricht auch dagegen? Die Impfungen werden bis Ostern noch keinen nennenswerten Effekt haben, das neue Virus ist deutlich besser übertragbar, so richtiges Frühlingswetter haben wir auch noch nicht. Meines Erachtens wurde nichts beschlossen, was kurzfristig das Wachstum aufhalten könnte.

"Effekte der Ruhepause könnten schnell verpuffen"

tagesschau.de: Kann denn dann ein so kurzer Zeitraum von fünf Tagen Ruhepause über Ostern überhaupt etwas ausrichten?

Reintjes: Fünf Tage sind nicht viel. Zudem sind es die Osterfeiertage, an denen sich zwei Familien treffen können - und werden. Dass das einen durchschlagenden Effekt hat, ist sehr fraglich. Angesichts der Inkubationszeit von fünf, sechs, sieben Tagen ist nicht damit zu rechnen, dass die Zahlen schon über Ostern geringer werden.

Vielleicht kann diese Ruhepause aber dazu beitragen, dass es danach zu einer leichten Abflachung der Kurve kommt. Die Gefahr ist aber, dass wir danach weitermachen wie bisher und die möglichen geringen Effekte schnell wieder verpuffen.

tagesschau.de: Wofür würden Sie stattdessen plädieren?

Reintjes: Wir brauchen jetzt eine deutliche Bremse. Wenn wir die haben wollen, sind fünf Tage Ruhepause vermutlich zu kurz und sie beginnt zu spät. Ich hätte erwartet, dass wir sofort einen harten Lockdown bekommen und hätte das auch sinnvoll gefunden. Wenn wir jetzt noch zehn Tage zuwarten, sind wir zu Ostern auf einem viel höheren Niveau und es wird noch schwerer, das Wachstum einzudämmen.

Alle Epidemiologen, die ich kenne, sind sich einig, dass man schnell und effektiv handeln muss. Jedes Zuwarten vergrößert das Problem.

"Die Zahlen steigen ja trotz der bisherigen Maßnahmen"

tagesschau.de: Gestern wurde noch einmal beschlossen, dass die Notbremse ab einer Inzidenz von 100 tatsächlich durchgesetzt werden muss, das war bisher nicht der Fall. Ist dieser Wert von 100 angemessen?

Reintjes: Nein, er ist viel zu hoch. Je weiter fortgeschritten das Infektionsgeschehen schon ist, desto schneller breitet es sich auch weiter aus und desto höher ist das Infektionsrisiko für alle. Deswegen sehen wir ja dieses exponentielle Wachstum.

Worüber viel zu wenig gesprochen wird, ist: Die Zahlen steigen so rasant, obwohl wir schon sehr viele Maßnahmen haben. Das erkläre ich mir unter anderem damit, dass wir schon jetzt sehr hohe Infektionszahlen haben, sicherlich auch eine hohe Dunkelziffer - und somit sind wir an sehr vielen Orten dem Risiko von Infektionen ausgesetzt. Und die derzeitigen Maßnahmen helfen da ganz offensichtlich nicht ausreichend.

tagesschau.de: Was würde helfen?

Reintjes: Ein großer Teil der Gesellschaft sind Leute, die zur Arbeit in eine Fabrik oder in ein Unternehmen fahren, wo sie in großen Räumen mit vielen anderen acht Stunden zusammen sind. Jetzt wurde wieder nur eine Empfehlung für die Arbeitgeber ausgesprochen.

Ich hätte mir stattdessen gewünscht, regelmäßige Tests mindestens zweimal die Woche vorzuschreiben. Mit einer reinen Empfehlung verlieren wir wieder Zeit. An dieser Stelle wären die Tests sehr sinnvoll eingesetzt. Anders als bei Fußballspielen. Ich finde, wir sollten erstmal das Alltagsleben besser absichern.

"Regelmäßige Tests in Schulen und Arbeitswelt"

tagesschau.de: Auch zu Schulen und Kitas heißt es im gestrigen Beschluss lediglich "es werden baldmöglichst zwei Testungen pro Woche angestrebt". Schulen und Kitas zu schließen, bis das sichergestellt ist, war offensichtlich nicht konsensfähig. Ist das ebenfalls ein Fehler?

Reintjes: Wenn man die epidemische Kurve betrachtet, sieht man ganz klar: In der Zeit, in der Schulen und Kitas geschlossen waren, ging die Kurve zurück, nach der Öffnung steigt sie wieder. Auch ich bin der Überzeugung, dass es sehr wichtig ist, dass Kinder in Schulen und Kitas gehen können, aber ein so reiches Land wie Deutschland müsste es sich leisten können, das sicherer zu gestalten. Das ist - neben dem Arbeitsleben - ein Bereich, in dem sich das Infektionsgeschehen deutlich reduzieren ließe.

tagesschau.de: Was halten Sie von Ausgangsbeschränkungen. Die sind ja im Zuge der Notbremse ab einer Inzidenz von 100 laut gestrigem Beschluss möglich?

Reintjes: In Ländern wie den Niederlanden hat man das eingeführt und sehr daran festgehalten, weil man davon ausgeht, dass es Kontakte im privaten Umfeld reduziert. Wenn es klare Hinweise gäbe, dass genau das - also beispielsweise Kontakte zwischen Familien - in einer bestimmten Region das Problem ist, dann würde ich so ein Mittel befürworten. Sinnvoller finde ich aber, die Mittel anzuwenden, die den Alltag nicht so negativ beeinflussen, wie eben beispielsweise regelmäßige verpflichtende Tests.

"Wir dürfen uns an die hohen Zahlen nicht gewöhnen"

tagesschau.de: Streit gab es insbesondere um den kontaktarmen Urlaub, den einige Länder umsetzen wollten: Hätten Sie es richtig gefunden, den zu ermöglichen?

Reintjes: In der Tat denke ich, dass der Effekt von kontaktarmem Urlaub auf das Infektionsgeschehen relativ gering gewesen wäre. Wenn es wirklich so ist, dass eine Familie in eine Ferienwohnung fährt, ohne am Urlaubsort Kontakte zu haben, weil sie ja beispielsweise ohnehin nicht in Restaurants gehen kann. Es hätte aus meiner Sicht wie gesagt andere, sinnvollere Maßnahmen gegeben.

tagesschau.de: Viele haben sich beinahe schon an die hohen Inzidenzwerte und Infektionszahlen gewöhnt. Nehmen die laufenden Impfungen diesen Zahlen so langsam den Schrecken?

Reintjes: Es ist eine sehr große Gefahr, dass wir uns an diese hohen Zahlen mittlerweile gewöhnen, obwohl sie derzeit wieder explodieren. Natürlich liegt die Hoffnung auf dem Impfen, aber es ist noch viel zu früh, um sich darauf auszuruhen. Erst wenn wir eine hohe Impfquote haben werden, beispielsweise 50 Prozent wie Großbritannien, werden wir deutliche Effekte sehen. Dort wurden gestern gerade 17 Todesfälle an einem Tag gemeldet. Davon sind wir noch weit entfernt.

Ich warne vor diesem Gewöhnungseffekt, denn hinter den hohen Infektionszahlen steht eine hohe Anzahl an Todesfällen in Deutschland mit wieder steigender Tendenz. Und auch die zunehmenden schweren Verläufe und Langzeitfolgen auch bei Jüngeren dürfen wir nicht unterschätzen.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete ein ARD extra am 23. März 2021 um 20:15 Uhr.