Notfall-Psychologe zu Lockdown "Viele stecken das sehr gut weg"
Für die einen ist die psychische Belastung im Lockdown enorm, andere kommen relativ gut durch die Krise, sagt Notfallpsychologe Stoeck im tagesschau.de-Interview. Gerade die Deutschen könnten im Vorteil sein.
tagesschau.de: Haben Sie es derzeit mit vielen Corona-Notfällen zu tun?
Florian Stoeck: Die Anzahl an Anfragen von Menschen, die sich in Krisen befinden oder denen es subjektiv schlecht geht, ist im Moment tatsächlich deutlich höher als in normalen Zeiten. Gerade bei Menschen, die bereits psychisch vorbelastet sind.
Beispielsweise Menschen mit Depression: Die sind ohnehin schon niedergeschlagen, jetzt leiden sie unter der Situation noch mal besonders. Aber auch Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen wie einer Schizophrenie. Die sind ohnehin durch ihr Krankheitsbild oftmals schon in sich eingeschlossen und leiden darunter, dass sie jetzt noch eingeschränkter sind. Aber auch Menschen, die eigentlich gesund sind, geraten momentan häufiger in Krisen.
"Ich weiß gar nicht, wen ich noch anrufen soll"
tagesschau.de: Was macht den Menschen besonders zu schaffen?
Stoeck: Natürlich die Isolation und Einsamkeit, das zu Hause sitzen, nicht rauskommen, keinen Ausgleich haben. Gerade Ältere, Menschen ohne Partner oder solche, die technikfern sind, leiden darunter. Manche rufen bei den Krisendiensten an und sagen: Ich weiß gar nicht, wen ich noch anrufen soll, weil es vielleicht auch niemanden gibt, der sich das noch anhören mag.
Finanzielle Nöte spielen eine große Rolle, beispielsweise bei denjenigen, die in Kurzarbeit sind oder ihren Job verloren haben. Auch der fehlende Zugang zum Gesundheitssystem ist ein Thema, wodurch sich bestehende körperliche oder psychische Erkrankungen verschlechtern können.
Die Leute erleben, dass sie nicht zum Arzt gehen können, weil sie keine Termine bekommen, dass die Sozialpsychiatrischen Dienste die Sprechzeiten gekürzt haben oder Beratung nur noch unter bestimmten Bedingungen durchführen. Es gibt auch Menschen mit Krebserkrankung, die vielleicht eine weitergehende Behandlung bräuchten, die aus guten Gründen momentan einfach zurückgestellt ist. Das alles kann sehr belastend sein.
"Die Kraft und die Kondition lassen nach"
tagesschau.de: Wir stecken jetzt in der zweiten Welle und keiner weiß, wie lange dieser erneute Lockdown noch dauern wird. Geht den Menschen die Puste aus?
Stoeck: Ja, das trifft auf viele tatsächlich zu. Es ist wie bei einem Langstreckenlauf. Die Kraft und Kondition lassen nach, auch die Kompensationsmöglichkeiten sind langsam aufgebraucht. Andererseits gibt es manchen momentan ein bisschen Schwung zu sehen, dass die Zahlen jetzt runtergehen und es somit eine Perspektive gibt.
Ein Stück weit haben sich viele aber auch schon an die Situation gewöhnt und sich angepasst. Da tritt ein gewisser Trainingseffekt ein. Wer etwas lange genug trainiert, wird auch stärker und bekommt mehr Kondition. Und das ist auch nötig, denn manches wird uns ja noch eine ganze Weile begleiten.
"Nicht in den Tag hinein leben"
tagesschau.de: Was raten Sie Menschen, um besser durch den Lockdown zu kommen?
Stoeck: Sehr wichtig ist, dem Tag eine Struktur zu geben. Einen Tagesplan aufstellen, in dem Ziele und Aufgaben definiert sind, die dann auch in bestimmten Zeitfenstern erledigt werden. Nicht einfach in den Tag hinein leben, sodass es egal ist, wann man was macht. Dann dehnt sich die Zeit und man hat das Gefühl, gar nichts zu tun. Wenn man hingegen etwas geschafft und abgehakt hat, geht man auch mit einem positiven Gefühl aus dem Tag raus.
Selbst wenn man jetzt keine oder weniger Arbeit hat, kann man Dinge angehen, die sonst liegen bleiben: bestimmte Haushaltstätigkeiten oder die Steuererklärung. Aber auch schöne Dinge: Etwa, ein Buch zum Vergnügen zu lesen. Oder zu schauen, welche digitalen Angebote es gibt, um sich neue Fähigkeiten, beispielsweise eine neue Sprache anzueignen. Wichtig ist aber auch, Pausen und Auszeiten einzuplanen und nicht die Tage zu voll zu packen. Gerade auch beim Homeschooling.
Und wir sollten weiterhin soziale Kontakte pflegen - in dem Maße, wie es jetzt eben geht. Über Telefon, virtuell oder mal wieder einen Brief schreiben. Menschen, denen es wirklich schlecht geht, sollten sich unbedingt professionelle Hilfe suchen.
"Wir gelten als relativ widerstandsfähige Gesellschaft"
tagesschau.de: Gehen die Deutschen mit den Belastungen anders um als andere Nationen?
Stoeck: Wir wissen, dass Erkrankungen etwas mit kulturellen Aspekten zu tun haben. Das heißt, es gibt ganz grundsätzlich Kulturen oder Gesellschaften, die verletzlicher, anfälliger sind und andere, die stärker sind. Es gibt also so etwas wie eine gesellschaftliche Resilienz, also Widerstandsfähigkeit. Das kann man messen, indem man beispielsweise schaut, wie verbreitet Depression in einer Gesellschaft ist.
Wir Deutschen gelten als relativ resiliente Gesellschaft. Unsere sozioökonomischen Rahmenbedingungen sind auch sehr gut. Wir haben Sicherungssysteme, ein adäquates Gesundheitssystem, Einrichtungen wie den Krisendienst, den sozialpsychiatrischen Dienst oder Beratungsstellen. Das gibt es in vielen anderen Ländern nicht so flächendeckend.
Viele stecken die aktuelle Situation tatsächlich auch sehr gut weg. Schließlich gibt auch positive Aspekte.
"Wir sollten nicht nur das Negative fokussieren"
tagesschau.de: Nämlich?
Stoeck: Ich merke das an mir selbst. Ich habe noch nie so viel Zeit für meine Familie gehabt, wie im vergangenen Jahr. Es fallen Termine weg, die vorher eine Art Pflichtveranstaltung waren. Oder die ganzen Erwartungen an Freizeitgestaltung, was wir alles sollen und müssen. Man kommt jetzt zu Dingen, für die nie Zeit war.
Auch die Transformation der Arbeitswelt durch Digitalisierung und Homeoffice birgt für viele Chancen. Chronisch Kranke beispielsweise, für die vorher bestimmte Jobs nie infrage gekommen wären, weil Homeoffice nicht möglich war, haben jetzt mehr Optionen.
Ich will die Belastungen und negativen Auswirkungen für viele nicht kleinreden. Ich finde aber, wir sollten nicht nur auf das Negative fokussieren, sondern auch mal schauen, was gerade gut und vielleicht sogar besser läuft.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.