Seit Hamas-Angriff auf Israel Jede dritte jüdische Gemeinde meldet Anfeindungen
Schmierereien, Beleidigungen, Drohungen: Jede dritte jüdische Gemeinde hat laut einer Umfrage seit dem Hamas-Angriff auf Israel Anfeindungen erlebt. Der Antisemitismus nehme zu - und komme auch aus linken Kreisen, so der Zentralrat der Juden.
Jede dritte jüdische Gemeinde in Deutschland hat einer Umfrage zufolge in den vergangenen Wochen antisemitische Taten wie Schmierereien und Beleidigungen verzeichnet. Unisono sei psychischer Druck über Drohanrufe und Drohmails angegeben worden, erklärte der Zentralrat der Juden. "Das sind erschütternde Berichte", sagte Zentralratspräsident Josef Schuster.
Der Zentralrat hatte die jüdischen Gemeinden in Deutschland vom 20. bis 30. November nach den Auswirkungen des israelischen Kriegs gegen die Terrororganisation Hamas nach deren Angriff vom 7. Oktober gefragt. Laut Zentralrat beteiligten sich Führungspersonen von 98 der 105 Gemeinden.
Gemeinden loben Zusammenarbeit mit Polizei
Fast 80 Prozent gaben demnach an, es sei seit dem 7. Oktober unsicherer geworden, in Deutschland als Jude zu leben und sich so zu zeigen. Leidtragende seien vor allem jüdische Senioren, Familien mit Kindern und Jugendliche.
Zugleich sei aber bemerkenswert, dass 96 Prozent der befragten Gemeinden zufrieden mit der Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden seien. Neben der Politik und Kirchengemeinden gehöre die Polizei zu den wichtigsten Partnern der Gemeinden. "Die Ambivalenz der Ergebnisse ist in dieser Form eine wirkliche Neuigkeit und eine wichtige Erkenntnis", sagte Schuster.
Schuster: Antisemitismus unter Migranten und in linken Kreisen
Der Zentralratspräsident warnte, dass Antisemitismus unter Migranten mit arabischen und türkischen Wurzeln sowie im linken Spektrum zunehme. "Man darf den Einfluss der israelfeindlichen Auftritte von Präsident Erdogan und seines Lobes für die Hamas nicht zu klein einschätzen", sagte Schuster im Interview mit der "Zeit".
Auch seien seit den Hamas-Attacken vom 7. Oktober antisemitische Äußerungen und Aktionen verstärkt aus "linken, leider auch akademischen Kreisen" zu beobachten, erklärte Schuster. "Die Bedrohung aus dem rechtsextremen Lager ist nicht verschwunden. Nur haben die anderen gerade die lautere Stimme." Jüdinnen und Juden wollten aber frei leben in Deutschland, ihrem Land, so der Zentralratsvorsitzende.
"Zu schaffen macht mir die Gleichgültigkeit"
Derzeit habe sich das Leben vor allem in Berlin und Städten in Nordrhein-Westfalen für sie negativ verändert. "Dort müssen Juden, die eine Kippa tragen oder einen Davidstern am Kettchen, befürchten, beleidigt oder sogar angegriffen zu werden."
Ungefähr 20 Prozent der deutschen Bevölkerung haben laut Aussage des Präsidenten antijüdische Vorurteile. "Das heißt: Die Mehrheit denkt nicht so. Zu schaffen macht mir aber die Gleichgültigkeit", sagte Schuster: "Sie denken nichts. Sie sagen nichts. Der Hass auf uns berührt sie nicht." Dieses Schweigen sei bitter.
Er habe volles Verständnis für Menschen in Deutschland, die für die Zivilbevölkerung in Gaza auf die Straße gingen. "Nur habe ich kein Verständnis, wenn die Hamas völlig außen vor und damit Ursache und Wirkung ausgeblendet bleibt. Und wenn in dem Zusammenhang das Existenzrecht Israels angezweifelt wird, dann ist es blanker Antisemitismus."
Antisemitismus, ob islamistisch, rechtsextrem oder linksradikal sei immer auch ein Angriff auf die offene Gesellschaft und den Rechtsstaat. "Wir dürfen nicht zulassen, dass Extremisten ganz gleich welcher Couleur unser Gemeinwesen gefährden."
Bildungsminister beraten zum Thema
Was angesichts des zunehmenden Antisemitismus getan werden kann, darüber berät auch die Kultusministerkonferenz der Bundesländer (KMK). Die Minister befassen sich bei ihrer nächsten Tagung mit Antisemitismus in Schulen und Hochschulen. Bei den Beratungen am Donnerstag und Freitag in Berlin werde der Umgang mit Antisemitismus und dem Terrorangriff der Hamas auf Israel zum Thema gemacht, teilte das KMK-Sekretariat in Berlin mit. Auf der Tagesordnung stehe ein Gespräch mit der Antirassismus-Beauftragten der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan (SPD), die auch für die Themen Migration, Flüchtlinge und Integration zuständig ist, sowie mit Organisationen von Menschen mit Migrationshintergrund.
In der Kultusministerkonferenz arbeiten die für Bildung, Erziehung, Hochschulen, Forschung sowie kulturelle Angelegenheiten zuständigen Ministerinnen und Minister sowie Senatorinnen und Senatoren der Bundesländer zusammen.
EU-Kommission will Juden und Muslime vor Hassverbrechen schützen
Die EU-Kommission hat ebenfalls reagiert. Sie brachte ein Maßnahmenpaket gegen Hassverbrechen auf den Weg, um insbesondere jüdische und muslimische Gemeinschaften besser zu schützen. "Seit dem 7. Oktober haben wir in Europa Szenen erlebt, die uns an die Ungeheuer der Vergangenheit erinnern und von denen wir gehofft haben, sie nie wieder zu sehen", begründete EU-Kommissarin Vera Jourová den Schritt. Laut EU-Kommission haben Hassrede und Hassverbrechen online wie offline "alarmierend" zugenommen.
Besonders jüdische und muslimische Gemeinschaften seien betroffen. Ein Fokus liegt auf dem Schutz jüdischer Einrichtungen. Für diese ist laut Kommission ein höheres Budget vorgesehen. Außerdem soll Hassrede im Internet verstärkt bekämpft werden. Was offline illegal sei, müsse auch online illegal sein, teilte die Kommission mit. Dafür sollen die Instrumente des neuen EU-Digitalgesetzes, dem Digital Services Act (DSA), genutzt werden.
Auch will die EU verstärkt Faktenchecker einsetzen. Projekte zur Förderung von Integration und Vielfalt in Bildung, Kultur und Sport sollen gefördert werden. Anfang 2024 ist zudem eine Anti-Hass-Konferenz geplant, um weitere Schritte auszuloten.