Pflege-WG auf dem Bauernhof Stall statt Stuhlkreis
Neuer Alltag im Alter - das geht auf einem Bauernhof im Westerwald. Hier leben pflegebedürftige Senioren und jede Menge Tiere, die versorgt werden müssen.
Besuch auf dem Hof in Marienrachdorf: Kurz nach 9 Uhr dürfen die Alpakas aus dem Stall. Landwirt Guido Pusch, der den Pflegebauernhof betreibt, drückt den Bewohnerinnen und Bewohnern die Leinen in die Hand. Dann zieht die Senioren-Karawane durchs Dorf zur Weide.
Für die Pflegebedürftigen ist der Kontakt mit den Tieren Alltag und trotzdem noch immer besonders: "Wenn einem das Kerlchen in die Augen blickt - da geht einfach was rüber", beschreibt es der 85-jährige Horst Hof. Während die Alpakas auf der Weide grasen, gönnt er sich mit den anderen eine Pause auf einer Bank in der Morgensonne. So lässt es sich leben auf dem Land.
Kein Streichelzoo
Auf dem Bauernhof im Westerwald wohnen 22 Menschen mit Pflegebedarf. Dazu kommen die Tiere: Neben den Alpakas gibt es Schweine, Rinder, Gänse, Katzen, Hühner und viele mehr. Der Hof sei kein Streichelzoo, betont Landwirt Pusch, sondern ein echter landwirtschaftlicher Betrieb: "Jeder trägt dazu bei, dass der Stall in Ordnung ist, dass Futter vorbereitet wird. Natürlich hat jeder aber unterschiedliche Fähigkeiten und Interessen", sagt Pusch.
Landwirt Guido Pusch: Alles begann mit seiner Großmutter
Von Großmutters Wunsch zum Pflegekonzept
Angefangen hat alles vor 15 Jahren, wie Pusch erzählt, als seine Großmutter pflegebedürftig wurde. "Sie ist auf dem Hof geboren und wollte auf dem Hof sterben." Pusch ließ die Gebäude seniorengerecht umbauen - das weckte das Interesse von anderen Pflegebedürftigen. Vor zwölf Jahren zogen die ersten Bewohner dann ein. Inzwischen habe sich das Konzept der Senioren-WG auf dem Bauernhof bewährt: "Wir merken hier einfach, dass der Mensch auch in der letzten Lebensphase noch eine Aufgabe braucht", sagt Pusch.
Zu den Aufgaben zählt auch das Eiersammeln im Hühnerstall. Mehr als 70 Stück holt Bewohnerin Angela Rath an diesem Tag. Unterstützt wird sie dabei von Puschs Tochter Samira. Sie ist 17 Jahre alt und lässt sich vom Pflegedienst, der sich auf das Hof-Konzept spezialisiert hat, zur Pflegefachkraft ausbilden. Währenddessen habe sie bereits Praxiserfahrung in einem Seniorenheim gesammelt. Aber dort arbeiten wolle sie nicht: "Das ist hier einfach anders", erzählt sie beim Eiersortieren. "Der Kontakt mit den Tieren, das macht einfach glücklich."
Das mit dem Glück sei so eine Sache, meint Bewohnerin Angela Rath, während sie ein Ei in einen Karton legt. Es gehe auch darum, etwas mit den Händen machen zu können. Bei ihr sei das nach einer Krebserkrankung besonders wichtig: "Da habe ich viel Fingerfertigkeit verloren", sagt Rath. Eiersammeln: auch eine Art Reha-Maßnahme.
Kein Streichelzoo: die Alpakas auf der Weide
Gemeinschaft und Selbstbestimmung
Gegen 12 Uhr gibt es auf dem Hof ein gemeinsames Mittagessen. Die Gemeinschaft sei ein zentraler Teil des Hofkonzepts, sagt Guido Pusch. Aber auch Selbstbestimmung. Alle Bewohnerinnen und Bewohner haben ihre eigenen Zimmer, in die sie sich zurückziehen können.
Horst Hof teilt sich mit seiner Frau eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Beide kommen aus der Nähe von Darmstadt, rund 100 Kilometer entfernt. Ihr Haus sei ihnen allmählich zu groß geworden, besonders seit der Demenzerkrankung seiner Frau, erzählt er. Seit einem halben Jahr sind sie nun hier auf dem Land zu Hause. "Das haben wir uns eigentlich immer gewünscht". Obwohl sie Städter seien. Ihr Leben lang seien sie viel auf Reisen gewesen, vor allem mit dem Motorrad, erzählt er. Der Westerwald ist nun das letzte Ziel ihrer Reise. Hier wollen sie bleiben, so lange es geht. "100 Jahre alt muss ich nicht werden - aber kurz davor", sagt Hof und lacht.
Eigener Honig
Am Nachmittag steht auf dem Pflegebauernhof noch eine Premiere an: Seit wenigen Tagen gehören 54 Bienenvölker zur Hofgemeinschaft, nun gibt es den ersten eigenen Honig. Horst Hof schabt mit Landwirt Pusch den Wachsdeckel auf den Waben ab. Die so genannten Rähmchen mit den Waben kommen dann in eine Schleuder, so lange, bis der Honig fließt. Was auf dem Bauernhof produziert wird, nutzen die Bewohnerinnen und Bewohner selbst. Was übrig bleibt, wird regional vermarktet - künftig auch der Honig, den eine eigene Imkerei produzieren soll.
Das Konzept von der Pflege mit Landleben stößt auf großes Interesse, berichtet Pusch: Mehr als 800 Menschen besuchen den Hof jedes Jahr - von Schulklassen bis zu einer Delegation von Gesundheitsfachleuten aus Japan. Aber auch andere Landwirte interessieren sich für seine Idee. "Das ist auch enorm wichtig", sagt Pusch. "Der Bedarf ist so groß und vielerorts sterben die Höfe aus."
Marienrachdorf im Westerwald: ein beschaulicher Ort
Anschubfinanzierung erwünscht
Mit den Einnahmen aus den Pflegeplätzen und der Landwirtschaft trage sich das Konzept selbst. Doch die hohen Investitionskosten seien für Landwirte schwierig zu stemmen: Die gingen in die Millionen, vor allem wegen teurer Umbaumaßnahmen. "Ich würde mir eine Anschubfinanzierung durch die Politik wünschen", sagt Pusch. Auch wenn es Pflegebauernhöfe inzwischen vereinzelt in anderen Bundesländern gibt: "Da müssen noch mehr Höfe ran", sagt Pusch. Die Nachfrage dürfte in einer Gesellschaft, die immer älter wird, jedenfalls noch steigen.