Steinmeier gedenkt Anschlags von Solingen "Ich nenne das Terror"
Bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Brandanschlags von Solingen vor 30 Jahren hat Bundespräsident Steinmeier deutliche Worte gefunden. Der Rechtsextremismus bleibe ein drängendes Problem.
30 Jahre nach dem rassistisch motivierten Brandanschlag von Solingen hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an die Opfer erinnert. "Ich bin heute hier, um der fünf Toten, der jungen Frauen und Mädchen, zu gedenken, die am 29. Mai 1993 ermordet wurden. Heute halten wir miteinander inne und trauern um Gürsün Ince, um Hatice Genc, um Gülüstan Öztürk, um Hülya Genc, um Saime Genc. Und natürlich um Mevlüde Genc, die uns im vergangenen Herbst verlassen hat", sagte das Staatsoberhaupt im Gedenken an die im Oktober verstorbene Friedensbotschafterin, die bei dem Anschlag zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren hatte.
Steinmeier sprach vor Hinterbliebenen und etwa 600 geladenen Gästen. In seiner Rede warnte Steinmeier auch vor einer Verharmlosung rechtsextremer Strukturen. "Viel zu lange saß unser Land der durch nichts gestützten, aber ständig wiederholten Behauptung auf, es seien verblendete Einzeltäter, die ihr Unwesen treiben", so der Bundespräsident. "Die Strukturen dahinter und die Ideologie der Täterinnen und Täter wurden lange übersehen, ignoriert, teils auch verdrängt."
"Kontinuität von rechtsextremer und rassistischer Gewalt"
Steinmeier erinnerte an den "braunen Nährboden" des Brandanschlags. Am 29. Mai 1993 hatten vier Rechtsextremisten in der nordrhein-westfälischen Stadt nachts das Haus einer türkischen Familie in Brand gesetzt.
Solingen markierte den Höhepunkt einer ganzen Serie rassistischer Verbrechen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in der Bundesrepublik. Rechtsextreme Taten gab es etwa in Hoyerswerda, Saarlouis, Rostock-Lichtenhagen und Mölln, die sich laut Steinmeier in das kollektive Gedächtnis eingegraben haben. Der Präsident erinnerte auch an die Anschläge in jüngster Zeit in Halle und Hanau. "Es gibt eine Kontinuität von rechtsextremer und rassistischer Gewalt in unserem Land", sagte der Bundespräsident.
Ich nenne das Terror. Dieser rechte Terror ist verantwortlich für die Toten hier in Solingen. Diesen rechten Terror gab es vor Solingen, und es gibt ihn nach Solingen.
Staat und Sicherheitsbehörden mit besonderer Verantwortung
Steinmeier mahnte an die besondere Verantwortung des Staates und seiner Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und jede Form von Menschenfeindlichkeit. "Jeder Mensch muss in unserem gemeinsamen Land in Sicherheit und Frieden leben können, und der Staat muss besonders diejenigen schützen, die ein höheres Risiko haben, Opfer von Gewalt zu werden. Dafür muss er alles, ja, dafür muss er noch mehr tun", sagte er. Es mache ihn deshalb "fassungslos", wenn sich "einzelne Angehörige von Sicherheitsbehörden" in rechten Chatgruppen organisierten, fügte der Bundespräsident in seiner Rede an. "Das können und dürfen wir nicht dulden."
Zugleich erinnerte er an die Verantwortung von Politik und Gesellschaft, etwa beim Sprachgebrauch. "Mit Worten kann man das Gewaltpotenzial einer Gesellschaft aktivieren. Und wir haben allzu oft erlebt, dass Worte zu Taten wurden. Wenn Politiker glauben, verbal um den rechten Rand buhlen zu müssen, wenn auch Politiker die Grenzen zwischen dem Unsagbaren und dem Unsäglichen verschieben, dann befeuern sie damit auch die Gewalt."
Mit Blick auf die Gesamtgesellschaft verwies Steinmeier auf "Vorurteile und Diskriminierungen im Alltag". Diesen gebe es etwa bei der Jobsuche, bei der Wohnungssuche oder bei der Fahrkartenkontrolle. Darüber hinaus wünsche er sich "Mitmenschen, die an einer Bushaltestelle eingreifen, wenn ein Mädchen rassistisch beschimpft und attackiert wird" und "die widersprechen, wenn Lügen, Hass und Hetze am Arbeitsplatz oder in sozialen Netzwerken, im Hausflur oder am Stammtisch verbreitet werden". Es brauche mehr "Mut", sagte der Bundespräsident.
"Schlimmste Menschenfeindlichkeit in niederträchtigster Form"
An der Gedenkveranstaltung nahmen auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und weitere Politiker teil. Nach Wüsts Worten bestehen "der Rassismus und die Bedrohung der extrem rechten Gewalt" fort. "Auch heute werden Menschen wegen ihrer Wurzeln, Kultur oder Religion ausgegrenzt, diskriminiert und angefeindet", sagte der CDU-Politiker.
Rassismus zeige sich von subtiler Alltagsdiskriminierung über Hetze im Netz bis hin zu rechtsextremen Gewalttaten, sagte Wüst. "Es ist sehr beunruhigend, dass rechtsextremes Gedankengut so verbreitet ist, dass rassistische und rechtsextreme Propaganda und Straftaten wieder zunehmen."
Nordrhein-Westfalens Regierungschef forderte dazu auf, sich dem "fortwährend entgegenzustellen" und gemeinsam für ein respektvolles gesellschaftliches Miteinander einzustehen. Solingen stehe wegen des "heimtückischen Brandanschlags" bis heute für "schlimmste Menschenfeindlichkeit in niederträchtigster Form", die Stadt im Bergischen Land sei aber kein Einzelfall, sagte Wüst. Er erinnerte an Anschläge und Ausschreitungen in anderen Städten, aber auch an die Morde des rechtsterroristischen Netzwerks NSU.
Erinnerung auch an die Stärke der Hinterbliebenen
Solingen sei zugleich auch ein Symbol für "unglaubliche Stärke und Haltung", betonte der Ministerpräsident. Er verwies auf die Haltung Mevlüde Gencs, die trotz ihres Verlusts dem Hass Menschenliebe entgegengesetzt habe. Trotz ihres unbeschreiblichen Schmerzes habe sie die große Kraft gehabt, "einer ganzen Gesellschaft die Hand zu reichen und uns in diesen dunklen Stunden den Weg zu weisen". Dadurch sei sie "ein großes Vorbild der Versöhnung" geworden.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bezeichnete den Brandanschlag von Solingen vor 30 Jahren als "dunklen Tag". "Der rechtsextreme Mord an fünf Menschen mit türkischen Wurzeln mahnt uns, alle zu schützen, die hier leben, die Verbrechen zu ahnden und Opfern zu helfen", schrieb Scholz im Kurznachrichtendienst Twitter. "Mit Respekt für unsere vielfältige Gesellschaft können wir viel erreichen", mahnte der Kanzler.
Idee eines Museums am Ort des Anschlags
Der stellvertretende türkische Außenminister Yasin Ekrem Serim beklagte bei der Gedenkfeier in Solingen, dass in Deutschland bislang mehr als 50 Menschen bei rassistischen Angriffen gestorben seien. Er warnte vor islamophoben Taten und "niederträchtigen Angriffen" gegen Muslime.
Ein Mitglied der Familie Genc äußerte den "Herzenswunsch", dass am Ort des 1993 abgebrannten Hauses "eine zentrale Gedenkstätte in Form eines Museums" entsteht. So solle die Erinnerung an den Anschlag und das Engagement ihrer Großmutter Mevlüde Genc für kommende Generationen wachgehalten werden, sagte Özlem Genc.