Studie dokumentiert Missbrauchsfälle Viele Übergriffe in SOS-Kinderdörfern
Eine unabhängige Kommission hat 226 Fälle von Übergriffen in Einrichtungen von SOS-Kinderdorf Deutschland untersucht. Es geht um Gewalt und sexuelle Übergriffe seit den 1960er-Jahren. Der Verein will Konsequenzen ziehen.
In Einrichtungen von SOS-Kinderdorf Deutschland ist es in mindestens 226 Fällen zu Grenzüberschreitungen gegenüber Kindern und Jugendlichen gekommen. Das geht aus einem Abschlussbericht hervor, den eine unabhängige Aufarbeitungskommission veröffentlicht hat.
Insgesamt habe die Schwere der Übergriffe seit den 1960er- und 1970er-Jahren abgenommen; die Meldungen zu Grenzverletzungen reichten jedoch bis in die Gegenwart hinein, sagte der Kommissionsvorsitzende Klaus Schäfer. Da die Aktenlage dürftig sei, sei eine Dunkelziffer "wahrscheinlich, aber nicht verifizierbar".
Körperliche, psychische Gewalt und sexuelle Übergriffe
Im Wesentlichen gehe es bei den Übergriffen um drei Formen: "Körperliche und psychische Gewalt sowie sexuelle Übergriffe, in Einzelfällen auch Vergewaltigungen", sagte der Diplom-Pädagoge. 189 der Fälle kamen über die 2010 eingerichtete interne Meldestelle bei SOS-Kinderdorf an die Kommission. Weitere 37 Betroffene hatten sich über einen Aufruf in Regionalzeitungen im Jahr 2023 gemeldet.
Tatorte für Grenzüberschreitungen waren und sind vor allem die Kinderdorffamilien und die Wohngruppen: Jeweils rund 40 Prozent der Übergriffe fanden dort statt. Etwa die Hälfte der Taten gingen von Mitarbeitenden wie Kinderdorfmüttern oder Erziehern aus. 20 Prozent der Übergriffe fanden durch andere betreute Jugendliche statt.
Studie kritisiert Konzept der Kinderdorf-Familien
Die Motive für die Übergriffe hätten sich seit Gründung von SOS-Kinderdorf Deutschland im Jahr 1955 gewandelt: "In den Anfangsjahrzehnten war ein bestimmtes Erziehungsverständnis der Grund, in dem das Züchtigungsrecht noch verankert war. Heute spielen Aspekte von Überforderung oder Machtausübung eine größere Rolle", sagte Schäfer. Die "erstaunliche Dominanz", die den Kinderdorfmüttern lange Zeit zugebilligt wurde, sei lange ein Grund für mangelnde Wahrnehmung von Missbrauch gewesen.
Die Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf Deutschland, Sabina Schutter, zeigte sich "zutiefst erschüttert" und bat alle Betroffenen um Entschuldigung: "Wir haben nicht immer gut genug hingehört, nicht alle Beschwerden ernst genommen und nicht angemessen reagiert."
Staatsanwaltschaft wurde eingeschaltet
Künftig werde man jeder Meldung von Unrecht schnell und umfassend nachgehen, sagte Schutter, die seit 2021 im Amt ist. Zuletzt habe man 33 Meldungen an die Generalstaatsanwaltschaft München übergeben, die nun prüfe, ob strafrechtlich relevante Vergehen vorlägen.
Schon 2021 habe der Verein außerdem einen "Aktionsplan Kinderschutz" gestartet. Er sieht vor, dass in jedem SOS-Kinderdorf eine Kinderschutzfachkraft beschäftigt wird und dass ab 2025 in jeder Kinderdorffamilie eine "Jahresreflexion" stattfindet, um Risiken frühzeitig zu erkennen. Das Konzept der Betreuung in Familien - das Herzstück von SOS-Kinderdorf - müsse modernisiert werden. Dieses aus Angst vor Risiken abzuschaffen, hält Schutter aber nicht für sinnvoll: "Für manche Kinder kann diese Form der Betreuung extrem wertvoll sein."
Experte empfiehlt Professionalisierung
Der Kommissionsvorsitzende Schäfer wiederum betonte, dass die Erziehung in Kinderdorffamilien keine Privatsache, sondern "öffentlicher Auftrag" sei: "Die Geschlossenheit von Kinderdorffamilien ist ein Risiko." Die Kommission empfehle daher eine "weitere Professionalisierung" von Kinderdorfmüttern und -vätern.