Tag der Deutschen Einheit "Die Mehrheit fühlt sich wiedervereinigt"
Materieller Wohlstand, Freiheitsrechte: Für die meisten Menschen in Ostdeutschland haben sich die großen Erwartungen in die Wiedervereinigung erfüllt, sagt Sozialwissenschaftler Kollmorgen. Dennoch bleibe Frustration und Skepsis.
tagesschau.de: Am 3. Oktober 1990 wurde die Deutsche Einheit vollzogen. Nach dem Fall der Mauer 1989 sind viele DDR-Bürgerinnen und Bürger für die Wiedervereinigung auf die Straße gegangen. Welche Erwartungen, welche Hoffnungen waren damit verbunden?
Raj Kollmorgen: Ich würde aus der Perspektive der Mehrheit sagen: Es gab die große Hoffnung auf materiellen Wohlstand, natürlich mit dem Blick auf das Wohlstandsniveau des Westens. Und sehr viele Menschen dachten, dazu reicht es aus, wenn sie weiter fleißig arbeiten und sich auf die marktwirtschaftlichen Bedingungen einstellen. Denn eigentlich seien sie selbst so weit und so modern in ihren Unternehmen und mit ihrer eigenen Arbeitskraft, dass das kaum einen Bruch bedeutet. Das wurde ihnen damals von der Politik ja durchaus suggeriert.
Es gab auch diejenigen, die die Freiheitsrechte sichern wollten, die man sich während der friedlichen Revolution erkämpft hatte. Die waren sich nicht ganz sicher, ob die Demokratisierung zu halten sein wird im Rahmen der DDR. Und dann gab es natürlich viele, die an diesen Wunsch nach Wiedervereinigung aus der Perspektive einer deutschen Nation festgehalten haben. Und die sich gewünscht haben, dass sie ohne bürokratische Hürden ihre Verwandten und Freunde besuchen und frei reisen können.
Aber viele Ostdeutsche haben auch gesehen, dass es sich um so etwas wie einen Deal handelt. Dass man auf der einen Seite die Selbständigkeit als DDR und DDR-Gesellschaft aufgibt und dafür materiellen Wohlstand erhält.
tagesschau.de: Was ist von diesen Erwartungen erfüllt worden - und was nicht?
Kollmorgen: Die Erwartungen einer gesicherten und liberalen Freiheits- und Rechtsordnung haben sich für die meisten erfüllt. Mit der kleinen Einschränkung, dass da, wo es um Eigentums-, Berufsrechte oder das Mietrecht ging, sich zeigte, dass es auch Härten geben wird, die das Bewusstsein der Erfolge oder Misserfolge der Deutschen Einheit aber durchaus mitbestimmen.
Was den materiellen Wohlstand betrifft, muss man ganz objektiv sagen: Das hat sich grandios erfüllt. Aber es kommt darauf an, wie die Menschen das sehen und beurteilen. Und da ist das Problem der Vergleich mit den alten Bundesländern, die ja nicht als Ganzes gesehen werden. Die meisten Ostdeutschen blicken eben doch auf Beispiele wie Hamburg-Blankenese und Konstanz, also auf die eher reichsten Schichten der Bevölkerung und auf die reichsten und schönsten Viertel und Städte. Und dann fühlen sich viele Ostdeutsche bis heute unterprivilegiert.
tagesschau.de: Wie hat sich die Zufriedenheit der Menschen in der ehemaligen DDR entwickelt und wie ist es jetzt?
Kollmorgen: Es lässt sich ein Grundtrend beschreiben: Demnach hat die Zufriedenheit zugenommen, trotz der vielen Debatten über die Erfolge der Einheit, über "Bürger zweiter Klasse" und über AfD-Wahlergebnisse. Die Ostdeutschen insgesamt waren eigentlich nie zufriedener als jetzt. Also jedenfalls bis 2019, also bis zur Pandemie.
Man kann aber zugleich sehr deutlich die Einbrüche in der Lebenszufriedenheit sehen, sobald es zu Krisenphänomenen kam: Anfang der 1990er-Jahre mit der Treuhand, in den 2000er-Jahren bei der Agenda 2010 und den Hartz-IV-Gesetzen oder während der Migrationskrise.
Aber insgesamt gab es eben eher eine Aufwärtsbewegung, die ja so irritierend kontrastiert zu den Wahlergebnissen der Parteien, die sich ausdrücklich als systemkritisch verstehen.
"Eine Art Fehlschluss"
tagesschau.de: Wie kommt es denn dann zu diesen Wahlergebnissen?
Kollmorgen: Das Problem ist zunächst eine Art Fehlschluss. Weil man zwar die eigene gute Situation sieht, aber immer denkt, den anderen geht es schlechter. Man fragt sich auch, was die Zukunft bringt und was man mit seiner Wahlentscheidung beeinflusst. Geht es in die richtige Richtung? Und so sagen Menschen, obwohl es ihnen selbst relativ gut geht: Ich habe Angst, dass ich das materielle Lebensniveau, das ich jetzt habe, die Stellung, den Status, das Ansehen verliere.
Dazu kommen die dramatischen Umbrüche, die viele Menschen selbst erfahren haben. Da hat sich eine gehörige Frustration und Skepsis bis hin zu einem Misstrauen aufgebaut gegenüber den bundesrepublikanischen Eliten und dem Institutionensystem. Zugleich vermissen Ostdeutsche den Respekt von den Westdeutschen für das, was sie zu DDR-Zeiten geleistet haben und für das, was sie während der harten Transformationszeit erleiden mussten und geleistet haben. Dieser mangelnde Respekt spielt für sehr viele Ostdeutsche bis heute eine Rolle, auch die - zumindest in ihren Augen - Fehlwahrnehmung, dass der Osten eben nur eine Hochburg von braunen Bewegungen, braunen Parteien und ansonsten Hilfsbedürftigen ist, die eigentlich nicht alleine auf die Beine kommen und deswegen bis heute Transferzahlungen brauchen.
tagesschau.de: Was muss passieren, damit sich die Menschen im Osten Deutschlands wirklich "wiedervereinigt" fühlen?
Kollmorgen: Eine große Mehrheit - etwa 80 Prozent - fühlt sich integriert und wiedervereinigt. Deswegen würde ich die Frage anders stellen: Wie kann man das, was jetzt Ost und West noch teilt, wo es Differenzen und unterschiedliche Auffassungen gibt, wie kann man da einen Schritt weiter kommen?
tagesschau.de: Und Ihre Antwort?
Kollmorgen: Wenn die Menschen im Osten sich auf ihre Stärken besinnen und Selbstbewusstsein entwickeln und entwickeln können, dann trägt das auch eine Einheit im Unterschied und in der Pluralität der Lebensverhältnisse. Und das ist für mich so etwas wie das Idealbild.Und trotzdem bleibt es natürlich richtig, dass wir aufpassen müssen, dass Heterogenität nicht Spaltung bedeutet oder in Spaltung umschlägt.
Das Interview führte Anke Hahn, rbb