Nach Erdbeben in der Türkei Schleppende Hilfe
Hunderte können ihre Angehörigen nach dem Erdbeben bisher nicht kurzfristig nach Deutschland holen, Hilfstransporte fahren erst verzögert los. Bürokratische Hürden gibt es nicht nur hierzulande, sondern auch in der Türkei.
Mesut Hos will seine Eltern so schnell wie möglich nach Deutschland holen. "Die Straßen meiner Kindheit existieren nicht mehr", erzählt er. Auch das Haus seiner Eltern ist zerstört. Sie wollen zu ihm nach Stuttgart kommen, doch das ist nicht so einfach. Denn Hos bekommt bislang kein Visum für sie.
Wie Mesut Kos geht es vielen in der türkischen Gemeinde. Rund 20.000 Menschen aus der Türkei oder mit türkischem Migrationshintergrund leben in Stuttgart. Bei vielen mischt sich die Trauer eine Woche nach dem Erdbeben mit Wut über die Hilflosigkeit. Hilfsgüter brauchen oft tagelang, um in den betroffenen Regionen anzukommen. Auch der Ärger über die schleppende Visa-Vergabe wächst.
Die baden-württembergische Landtagspräsidentin Muhterem Aras berichtet von zahlreichen Anrufen verzweifelter Angehöriger, die ihre Verwandten nach Deutschland holen wollen, aber nicht weiterkommen. "Wir sitzen hier, uns sind die Hände gebunden. Warum ist es nicht möglich, Angehörige für eine kurze Zeit auf eigene Kosten zu mir in die Region Stuttgart zu holen?", fragt die Grünen-Politikerin.
Bis zu drei Monate Wartezeit
Engin Sanli ist Anwalt für Asyl- und Ausländerrecht in Stuttgart. Auch bei ihm steht das Telefon seit Tagen nicht still. Er kann seinen Klienten bislang nur wenig Hoffnung machen. "Zur Ausreise brauchen die Menschen einen gültigen Reisepass, der liegt aber oft unter den Trümmern", erklärt er.
Die Angehörigen in Deutschland müssten außerdem bei der Ausländerbehörde erklären, dass sie genug Geld haben, um Verwandte mit einem 90-Tage-Visum bei sich aufzunehmen. "Dafür einen Termin zu bekommen, kann aber schon mal bis zu drei Monaten dauern", sagt Sanli. Trotz aller Versprechungen aus der deutschen Politik, Personal kurzfristig aufzustocken.
Heute Abend will Sanli selbst nach Istanbul fliegen, um mit Kollegen vor Ort zu beraten, wie man den Prozess beschleunigen könnte. In der Türkei sei die Verwaltung schon viel weiter digitalisiert als in Deutschland. Wer einen elektronischen Zugang hat, könne eventuell auch ohne Pass Ersatzdokumente beantragen.
Hilfstransport erst nach fünf Tagen
Während der Anwalt sich auf seinen Flug vorbereitet, ist die nächste Ladung mit Hilfsgütern aus Stuttgart schon unterwegs. Am Freitag ist ein Lastwagen mit Hilfsgütern wie Kindernahrung, Decken und Kleidung losgefahren, organisiert von der alevitischen Gemeinde. Schneller ging es nicht - auch auf türkischer Seite sind die bürokratischen Hürden hoch. Erst nach fünf Tagen waren alle Genehmigungen aus der Türkei da. "Wir sind echt dankbar, dass wir den Lkw beladen und losschicken durften", sagt Dilara Carbaka, die nun hofft, dass der Transport auch gut im Krisengebiet ankommt.
Doch kurzfristige Hilfe ist das eine. In der türkischen Gemeinde stellen sich viele mittlerweile auch die Frage, wie es weitergeht - in ein paar Wochen, Monaten oder auch Jahren, wenn die Nachrichten in Deutschland und der Türkei längst wieder über andere Dinge berichten und die Katastrophe langsam aus dem Gedächtnis verschwindet. "14 Millionen Menschen werden auch weiterhin langfristige Hilfe brauchen", sagt Gökay Sofuoglu. Er ist seit 2014 Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland.
Deutsch-Türkische Patenschaften
Sofuoglu will eine Idee aus dem Jahr 1999 wieder aufleben lassen. Kurz nach dem verheerenden Erdbeben von Gölcük reiste er damals mit Freunden von Stuttgart aus ins Krisengebiet. Aus der Reise entstand ein Projekt zur langfristigen Hilfe. Patinnen und Paten aus Deutschland unterstützten Familien im Erdbebengebiet. Teilweise über Jahre hinweg, mit bis zu 1200 Mark im Jahr. "Damals sind richtige Freundschaften entstanden", sagt Sofuoglu.
Dorothee Schlegel war eine der Patinnen der ersten Stunde. Die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete und damalige Referentin des türkischen Generalkonsuls in Stuttgart unterstützte zwei Jahre lang einen kleinen Jungen, der bei dem Erdbeben beide Eltern verloren hat. "Wenn mich heute jemand fragen würde, wäre ich wahrscheinlich sofort wieder dabei", sagt sie.
Fraglich ist jedoch, ob das Projekt heute so einfach wiederzubeleben wäre. Die Türkei im Jahr 2023 sei eine ganz andere, sagt Sofuoglu. Viel zentralistischer organisiert, ohne die Erlaubnis der Regierung Erdogan laufe nichts. "Damals sind wir einfach zu den Ortsvorstehern in den besonders betroffenen Gemeinden gefahren und die haben uns gesagt, wer unser Geld am dringendsten braucht", berichtet er. Heute gehe das nicht mehr.
Die türkische Gemeinde in Stuttgart habe aber schon einige Ideen, sagt Sofuoglu. Eine davon sind direkte Partnerschaften mit betroffenen Städten. Mit den ersten stehe man schon in Kontakt - damit die deutsch-türkischen Patenschaften "Made in Stuttgart" auch im Jahr 2023 eine Erfolgsgeschichte werden können.