Interview

Interview zur Beitragserhöhung "Es droht der höchste Beitragssatz aller Zeiten"

Stand: 05.07.2010 15:46 Uhr

Höhere Beiträge und Zuzahlungen: Angesichts steigender Kosten im Gesundheitswesen greift die Regierung zu Mitteln, die sie eigentlich hinter sich lassen wollte. Doch löst sie damit die grundlegenden Probleme im System? Und droht womöglich Ende kommenden Jahres eine neue Beitragserhöhung? Darüber sprach tagesschau.de mit dem Münchner Gesundheitsökonom Günter Neubauer.

tagesschau.de: Ist die Erhöhung der Beitragssätze auf 15,5 Prozent unvermeidlich? 

Günter Neubauer: Wir stehen langfristig steigenden Ausgaben gegenüber. Damit werden wir auf lange Sicht leben müssen. Da wir die steigenden Ausgaben bis zu einer bestimmten Höhe aus den Arbeitseinkommen finanzieren heißt das, dass der Beitragssatz steigen wird. Diese Arithmetik der alten Art wollte die Regierung ursprünglich durchbrechen. Das schafft sie aber offensichtlich nicht. Steigende Ausgaben werden durch Ausgabendämpfung und durch Erhöhung der Beiträge finanziert. Die Regierung steht damit in der Tradition der vergangenen 25 Jahre.

Zur Person
Prof. Günter Neubauer ist Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomik (IfG) in München. Neubauer war von1986 bis 1990 Mitglied der Enquete Kommission "Reform der GKV" des Deutschen Bundestages und von 1990 bis 1998 Mitglied des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen.

tagesschau.de: Auch die Zusatzbeiträge sind in der Diskussion. Bislang sind Sie auf ein Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen des Mitglieds begrenzt. Ist das noch zu halten?

Neubauer: Nein. Die Zusatzbeiträge wurden 2007 von der Großen Koalition beschlossen. Damals hat die CDU die Zusatzbeiträge als Öffnung zur Kopfpauschallen beziehungsweise Gesundheitsprämie verstanden, und die SPD wollte eine soziale Komponente. Deswegen wurde die Begrenzung auf ein Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen des Mitglieds beschlossen. Nun möchte die FDP die Zusatzbeiträge zu einer Gesundheitsprämie aufbohren. Das aber macht die CSU nicht mit. Deshalb wird man die Zusatzbeiträge wohl ohne sozialen Ausgleich über die Grenze von einem Prozent etwas ausweiten, und damit auch die Belastung ohne Sozialausgleich von acht auf vielleicht 13 Euro.

"Keine Kraft für eine wirkliche Reform"

tagesschau.de: Aber wie lange reicht das? Muss möglicherweise schon im kommenden Jahr erneut über höhere Beiträge nachgedacht werden?

Neubauer: Wir reden von einer Reform, die keine ist, und deshalb kann man die kommende Reform schon absehen - die Frage ist nur, wann sie kommt. Ich glaube nicht, dass diese Regierung noch die Kraft zu einer wirklichen, strukturellen Reform hat. Wenn man am Ende des kommenden Jahres feststellen muss, dass die Mittel nicht ausreichen, wird sie den begonnenen Weg fortsetzen und den allgemeinen Beitragssatz erhöhen und an den Zusatzbeiträgen drehen. Damit ist zwar nichts gewonnen, aber die Regierung wird es nicht schaffen, in dieser Legislaturperiode etwas weitergehendes zu beschließen.

tagesschau.de: Wagen Sie eine Prognose, wie hoch der Beitragssatz am Ende der Legislaturperiode sein wird?

Neubauer: Wir werden am Ende der Legislaturperiode den höchsten Beitragssatz aller Zeiten haben und trotzdem eine unbefriedigende Finanzierungssituation - insbesondere, wenn Sie die Ärzte oder Krankenhäuser fragen. Wenn man alles zusammenrechnet - Beitragssatz, Zusatzbeitrag und Gelder vom Staat - dann kommen wir schon nach der jetzt anstehenden Erhöhung auf einen Satz von 17, 8 Prozent. Jeder weiß: Dieses Spiel kann nicht ewig fortgesetzt werden, wenn man die Beitragszahler und Unternehmen nicht überfordern will. Hier tut sich der Reformbedarf für die kommende Legislaturperiode auf. Je nach Zusammensetzung wird es dann um die Bürgerversicherung oder die Gesundheitsprämie gehen.

"Widerstand der CSU hat überrascht"

tagesschau.de: Dass die Gesellschaft altert und dass Medizin gewiss nicht billiger wird, war ja schon bei der Gründung des Gesundheitsfonds bekannt. Hat man sich damals vor unangenehmen Wahrheiten gedrückt?

Neubauer: Damals waren SPD und Union mit völlig unterschiedlichen Konzepten für eine Gesundheitsreform in den Wahlkampf gezogen. Die SPD wollte die Bürgerversicherung, CDU/CSU traten für die Kopfpauschale bzw. Gesundheitsprämie ein - wenn auch gegen den Widerstand von Horst Seehofer, der aber seinerzeit nur einfacher Abgeordneter war. Der Gesundheitsfonds war Ergebnis eines Kompromisses, an dem Seehofer und die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt mitgewirkt haben. Beide wollten eine Plattform schaffen, von der sie in der darauffolgenden Legislaturperiode zu ihren ursprüglichen Konzepten zurückkehren konnten. Dann kam es zu einer Koalition von Union und FDP, und allgemein hat man erwartet, dass die CDU nun ihre Pläne durchsetzen würde. Niemand hat damit gerechnet, dass der interne Widerstand der CSU so groß sein würde, und deshalb bleibt die Reform wieder an der bekannten Stelle hängen. Wir verlieren dadurch Zeit.

tagesschau.de: Was müsste denn im Kern einer zeitgemäßen Reform stehen?

Neubauer: Eine moderne Finanzierung darf sich nicht mehr wie bisher von der demografischen Entwicklung und von Arbeitseinkommen abhängig machen. Wir müssen alle Einkommen in die Finanzierung einbeziehen und einen Ausgleich über die Steuern schaffen, und nicht nur über die Solidarität der Beitragspflichtigen mit einem Arbeitseinkommen bis 3750 Euro. Dieser Weg ist ohne Zukunft und sozial nicht ausgewogen. Der Beitragssatz wird mehr und mehr zu einer Bedrohung des Leistungswillens der Beitragspflichtigen und er belastet immer mehr die Arbeitskosten der Unternehmen. Beides erschüttert die Grundfesten unseres Sozialstaates.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de.