Christlicher Glaube in Deutschland "Immer mehr Menschen suchen andere Wege"
Yoga, Reinkarnation, populäre Angebote für Gläubige - die Glaubensformen und auch die Kirchen in Deutschland verändern sich enorm, sagt Hubert Knoblauch im Interview mit tagesschau.de. Der Soziologe beschreibt, was das für unsere Gesellschaft bedeutet und woran die Deutschen glauben.
tagesschau.de: Woran glauben die Deutschen?
Hubert Knoblauch: Von den Kirchen bestimmte religiöse Vorstellungen spielen immer noch eine große Rolle für den Glauben vieler Deutscher. Sie sind vor allem in der katholischen Kirche stark durch Rituale geprägt, in der islamischen Religion auch durch die alltägliche Lebensführung. Aber wir haben auch eine ganze Reihe von anderen Glaubensformen, die sich damit vermischen. Das trifft auf Kirchenmitglieder zu wie auf Menschen, die nicht mehr in der Kirche sind. Denken Sie zum Beispiel an die Ausbreitung von Yoga und alternativen Glaubensformen - wie der Glaube an Reinkarnation.
tagesschau.de: Sie sagen, es gibt immer mehr andere Glaubensformen. Der Soziologe Thomas Luckmann hat ja den Begriff der "unsichtbaren Religion" geprägt, die sich auch in Form von Fußballbegeisterung äußern kann. Welche Rolle spielt dann die Kirche noch in unserer Gesellschaft?
Knoblauch: Die Kirche bildet einen abgegrenzten Sektor in der modernen Gesellschaft, im Alltag ist sie ein ausgegrenzter Bereich des Religiösen, aber nur für diejenigen, die unmittelbar mit ihr verbunden sind. Aber für viele andere spielt sie eine sehr geringe Rolle.
Hubert Knoblauch lehrt als Soziologe an der Technischen Universität Berlin. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist Religion in der Gegenwartsgesellschaft.
"Die Kirchen prägen auch die weltlichen Diskussionen"
tagesschau.de: Religionszugehörigkeit ist also immer mehr eine Frage der individuellen Wahl - und keine Frage mehr der Herkunft, der Tradition, des sozialen Status. Was bedeutet das für unsere Gesellschaft und das Zusammenleben?
Knoblauch: Die Kirchen sind enorm mächtige Institutionen in Deutschland. Sie sind nach wie vor einflussreiche Institutionen, die durch karitative und diakonische Tätigkeiten sowie als Arbeitgeber sehr bedeutend sind. Sie haben einen großen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs. Aber der Anteil der Menschen, auf die sie einen direkten Einfluss haben, schrumpft. Immer mehr Menschen suchen sich andere Wege der Sinngebung.
tagesschau.de: Wie stark prägen die christlichen Werte das Leben der Menschen, auch wenn sie keine Kirchenmitglieder sind?
Knoblauch: Die christlichen Lehren sind in Deutschland auch in den weltlichen Diskussionen präsent. Die abendländische Kultur ist sehr stark geprägt von christlichen Werten. Zum Beispiel das Solidaritätsprinzip unseres Sozialsystems hat seinen Ursprung ganz sicher in der christlichen Nächstenliebe. In die Werte der westlichen abendländischen Demokratien ist das Christentum tief eingeschrieben.
tagesschau.de: Gilt das auch für die einzelnen Menschen?
Knoblauch: Bei der Frage, wie stark die kirchlichen Regeln und Normen die einzelnen Kirchenmitglieder leiten, zeigt sich ja gerade in der katholischen Kirche, dass der Einfluss geringer wird, zum Beispiel bei den Themen Schwangerschaftsabbruch und Pille.
Kirche nicht für alle Sinn stiftend
tagesschau.de: Heißt das, dass die Kirche sich zu weit von dem wegbewegt hat, was den Menschen wertemäßig wichtig ist?
Knoblauch: Nein, die Kirche kann vermutlich relativ wenig dafür. Es ist ein gesellschaftlich-strukturelles Phänomen, das mit der Ausdifferenzierung von institutionellen Bereichen zu tun hat. Die Religion ist nur einer von vielen Bereichen, für die das gilt. In unseren beruflichen Tätigkeiten ist es ja nicht so, dass wir fortwährend mit großartigem Sinn ausgefüllt werden. Dadurch entsteht ein Freiraum - nicht ein Leerraum - für die einzelnen Menschen, individuell für sich einen Sinn in ihrem Leben zu suchen. Die Kirche ist aber nur eine hochgradig spezialisierte Sphäre: Sie bietet nicht für alle sinnstiftende Normen und Regeln. Hinzu kommt, dass wir heute sehr viel mehr Möglichkeiten haben, uns über Religion zu informieren, uns selbst etwas herauszusuchen, was zu uns passt, als zu Zeiten der alten Massenmedien.
tagesschau.de: Was können die Kirchen tun, um wieder mehr Menschen zu erreichen, auch übers Internet?
Knoblauch: Das ist wohl die Eine-Millionen-Euro-Frage. Die Kirchen haben ja schon auf verschiedene Weise auf diese Frage reagiert. Eine Reaktion der Kirchen seit den 80er-Jahren war eine zunehmende Öffnung und Marktorientierung, sie hat mit neuen Angeboten zuweilen einen Jahrmarkt der Möglichkeiten geschaffen. Die Angebote orientieren sich manchmal stark an der populären Kultur, wie etwa die immer stärkere Ausrichtung kirchlicher Ereignisse an Events und die Ausrichtung religiöser Leistungen an besonderen Zielgruppen.
Dass es neue Kommunikationsformen über das Internet gibt, könnte eine Chance für die Kirchen sein. Denn gerade in der katholischen Kirche herrscht ja noch die Vorstellung von Beteiligung vor, dass die Menschen sich in die Kirche begeben. Es existieren jetzt ganz andere Kommunikationswege und damit auch Partizipationsformen an Religion – über die Kirche oder die lokal gefassten Gemeinden hinaus.
"Religion wird politisch instrumentalisiert"
tagesschau.de: Wie sieht es mit den muslimischen, jüdischen und anderen Glaubensrichtungen in Deutschland aus? Ist in ihnen das Handeln und Denken mehr von ihrer Religion bestimmt?
Knoblauch: Im islamischen Glauben wird über die Rituale hinaus versucht, auch die Lebensführung sehr stark zu bestimmen. Das Religiöse ist im Islam kein ausgegrenzter Bereich, weil man nicht nur in der Moschee, sondern auch außerhalb beten kann und muss. Das zeigt sich auch über die sichtbare Identifikation im Alltag – wie das Kopftuchtragen.
tagesschau.de: Obwohl wir - wie Sie sagen - in einer entkirchlichten, säkularisierten Gesellschaft leben, wird Religion von Parteien und einzelnen Politikern als Argument für oder gegen politische Maßnahmen und Ziele verwendet. Ist das in einer eher atheistischen Gesellschaft glaubwürdig oder wird Religion instrumentalisiert?
Knoblauch: Ja, ganz sicher ist das so. Die Opposition der AfD gegen die Position "Der Islam gehört zu Deutschland" zum Beispiel ist eine Instrumentalisierung von Religion. Denn wir leben in einem Staat, der die Religionsfreiheit zulässt, es sei denn, sie würde tatsächlich gegen das Grundgesetz verstoßen.
"Ein wunderbarer Repräsentant der christlichen Ethik"
tagesschau.de: Welche Rolle spielt Religion in den östlichen Bundesländern? Wie würden Sie den Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland in Bezug auf Religiosität beschreiben?
Knoblauch: Ostdeutschland ist eine der Ausnahmeregionen der Welt: Fast nirgends gibt es so wenig Kirchenmitglieder wie dort. Man sollte auch bedenken, dass von manchen auch der Sozialismus als ein adäquater Ersatz für Religion betrachtet wurde. In manchen Gebieten sind es 22 bis 23 Prozent der Bevölkerung, die sich zu den Christen zählen, das entspricht der Zahl, die sich in den westlichen Bundesländern durchschnittlich nicht als Christen bekennen.
tagesschau.de: Jenseits der Kirchenzugehörigkeit – wie steht es mit den christlichen Werten in Ostdeutschland?
Knoblauch: Der Unterschied ist nur groß, wenn es um den direkten Einfluss der Kirche geht. Sie kann mit ihren Appellen weniger erreichen. Aber auch im ehemaligen Sozialismus - wie im Humanismus - war der säkularisierte Gedanke der Nächstenliebe eingebaut. Der Werteunterschied ist - wenn überhaupt - minimal. Auch unser Bundespräsident ist ein Ostdeutscher und ein wunderbarer Repräsentant der christlichen Ethik in einem säkularen Amt.
Zweifel an AfD als Dialogpartner
tagesschau.de: Muss Kirche immer dialogbereit sein - auch gegenüber der AfD, die zum Katholikentag nicht offiziell eingeladen wurde?
Knoblauch: Das stellt sich doch zu allererst die Frage, ob die Kirchen in erster Linie politische Akteure sind oder nicht, zweitens, ob sich Gruppierungen, die Religionsfreiheit nicht unterstützen, in solch einem Forum als Dialogpartner hinstellen sollten. Eine Gesprächsbereitschaft, wie wir es bei dem gescheiterten Treffen mit dem Zentralrat der Muslime gesehen haben, ist bei der AfD ja nicht unbedingt vorhanden.
Das Interview führte Nea Matzen, tagesschau.de