Interviewserie 60 Jahre Grundgesetz "Artikel 1 des Grundgesetzes überragt alles"
"Die Würde des Menschen ist unantastbar" - Artikel 1 im Grundgesetz ist für Hans-Dietrich Genscher das allüberragende Element unserer Staatsordnung. Um die Werte auch im zusammenwachsenden Europa ausüben zu können, sagt er, muss die Rolle des Bundesverfassungsgerichts bestehen bleiben.
tagesschau.de: Ist die Geschichte des Grundgesetzes eine Erfolgsgeschichte?
Hans-Dietrich Genscher: In jedem Fall. Die schrecklichen Erfahrungen aus dem Dritten Reich und die Verleugnung der Menschenwürde erklären, warum Artikel 1 - "Die Würde des Menschen ist unantastbar" - die zentrale Auftrag dieses Grundgesetzes ist. Es ist der alles überragende Artikel, und daraus erfolgte logischerweise auch die Abschaffung der Todesstrafe.
tagesschau.de: Sie sind 1952 aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt. Welche Rolle spielte das Grundgesetz für Sie?
Genscher: Das hat für mich eine große Rolle gespielt. Das Land, so wie ich es mir erhofft hatte, war die Bundesrepublik Deutschland. Das war geprägt durch den Geist des Grundgesetzes.
tagesschau.de: Bis zur Wiedervereinigung war das Grundgesetz ja vorläufig. Hätte man nicht nach 1989 das gemeinsame Grundgesetz dem Volk noch mal zur Abstimmung vorlegen müssen?
Genscher: Nein. Das Grundgesetz sah in Artikel 23 vor, dass die neuen Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland beitreten. Es bedurfte keiner Zustimmung der Bundesrepublik Deutschlands dazu, sondern nur eine Entscheidung des ersten frei gewählten Parlaments der Volkskammer in der DDR. Die hat beschlossen, beizutreten. Wer damals gesagt hätte, Artikel 23 haben wir aber nur geschrieben, solange der Beitritt nicht möglich war und jetzt gilt das nicht mehr, der hätte ja die Deutschen in der DDR erneut bevormundet. Das wäre eine elitäre Arroganz gegenüber den Deutschen in der DDR gewesen, die die Freiheit selbst errungen hatten.
"Das Grundgesetz bestimmt eine Werteordnung"
tagesschau.de: Ist unser Grundgesetz durch das Zusammenwachsen in Europa, den Lissabon-Vertrag, in Gefahr?
Genscher: Nicht in Gefahr, aber es wird große Aufmerksamkeit notwendig sein, damit die Grundelemente erhalten bleiben. Denn unser Grundgesetz ist ja keine Verfahrensordnung wie viele Verfassungen, sondern es bestimmt eine Werteordnung. Sollten die Grundrechte aber von irgendeiner Seite bestritten werden, dann ist eine Alarmstufe erreicht.
tagesschau.de: Sehen Sie eine Gefahr, dass wir das Grundrecht auf Verfassungsbeschwerde durch den Lissabon Vertrag verlieren?
Genscher: Nein, das werden wir nicht. Wir werden die Grundrechte, die wir haben, auch im Rahmen dieses Vertrages ausüben können. Deshalb ist auch so wichtig, dass wir das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung haben. Dieser Wert muss in jedem Fall gesichert werden.
tagesschau.de: Welche neuralgischen Punkte sehen Sie in der Geschichte des Grundgesetzes?
Genscher: Es gab eine Reihe von Auseinandersetzungen und es gehört auch zu unserer Verfassungsordnung, dass das Bundesverfassungsgericht ein großes Gewicht hat. Das Bundesverfassungsgericht hat seine Bewährungsprobe bestanden. Das können Sie an vielen Urteil sehen. Zum Beispiel zum Lauschangriff, zur Online-Durchsuchung, zum Luftsicherheitsgesetz. Da zeigt sich, wie wichtig es war, dass es außer dem Gesetzgeber auch noch einen Hüter der Verfassung gibt, obwohl sich auch der Gesetzgeber als solcher betrachten sollte.
tagesschau.de: Wenn es nun nach Ihnen ginge: Welche Paragraphen würden Sie dem Grundgesetz hinzufügen, welche würden Sie verändern?
Genscher: Das Grundgesetz ist aus meiner Sicht eine optimale Verfassung und man sollte nicht zu oft am Grundgesetz herumdoktern. Das setzt im Grunde seinen Wert herab. Natürlich wäre eine Ergänzung möglich. Zum Beispiel durch eine Staatszielbestimmung für Kultur oder für Bildung. Das Recht auf Bildung ist zentral und die Bedeutung des Kulturstaates Deutschland auch. Das würde ich, wenn man wirklich etwas verändern will, als besonders bedeutsam betrachten.
Das Interview führte Priya Palsule-Desai, tagesschau.de