Zu Unrecht in Haft Der lange Weg zur Entschädigung
Menschen, die unschuldig im Gefängnis saßen, steht eigentlich eine Entschädigung für die Haft und ihre Folgen zu. Aber der Zugang ist mühsam und auch Betreuungsmöglichkeiten gibt es kaum.
Es sind seltene Fälle, aber häufig spektakuläre: Menschen, die jahrelang unschuldig im Gefängnis saßen. Wer seine Unschuld beweisen kann, dem steht eigentlich eine Entschädigung für die Haft und ihre Folgen zu. Aber der Zugang, sagen Fachleute, ist mühsam.
Zum Beispiel Manfred Genditzki. Der frühere Hausmeister wurde 2010 wegen Mordes an einer Rentnerin aus Rottach-Egern in Oberbayern zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Genditzki hat immer beteuert, unschuldig zu sein. Im August dieses Jahres kam er frei, nach 13,5 Jahren Haft. Ein neues Gutachten hatte nachgewiesen, dass sich die Verletzungen des Mordopfers auch durch einen Unfall erklären lassen - ein Gericht sah keinen dringenden Tatverdacht mehr.
Opfer müssen fürs Gefängnis zahlen
Opfern von Justizirrtümern steht Entschädigung zu - für immaterielle und für materielle Schäden. Die immateriellen Schäden werden pauschal mit 75 Euro pro Tag im Gefängnis abgegolten. Manfred Genditzki saß nach Angaben des Bayerischen Justizministeriums genau 4912 Tage in Haft, er würde also 368.400 Euro erhalten. Dazu kommen Entschädigungen für materielle Schäden, etwa den Verdienstausfall oder Behandlungskosten für psychische Schäden, die aus der Haft resultieren.
Frederike Leuschner von der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, einer Forschungseinrichtung des Bundes und der Länder, hat vor fünf Jahren in einer Studie zusammen mit einer Kollegin Opfer von Justizirrtümern befragt. Ein Ergebnis der Studie: Betroffene warten teils jahrelang auf Entschädigung. Und sie fühlen sich bei der Entschädigung oft noch einmal ungerecht behandelt, so Leuschner - denn Schäden müssten sehr detailliert nachgewiesen werden. Bei psychischen Erkrankungen werde teils gefordert zu belegen, dass die nicht schon vor der Haft bestanden. Leuschner: "Das ist natürlich eine Farce, denn wie soll ich nachweisen, dass ich nicht psychisch krank war in der Vergangenheit."
Und dann zieht die Justiz von der Entschädigung auch noch Geld ab - unschuldig Verurteilte müssen nämlich unter Umständen für Kost und Logis im Gefängnis bezahlen. Nach Angaben des Bundesjustizministeriums können sich da Beträge von mehreren hundert Euro für jeden Monat Haft ergeben. Denn Unterkunft und Verpflegung im Gefängnis gelten als "ersparte Kosten".
Wiederaufnahmeverfahren: eine Frage des Geldes
Damit überhaupt eine Entschädigung fließt, müssen Betroffene erst einmal ein Wiederaufnahmeverfahren erreichen. Regina Rick, Anwältin aus München, vertritt Manfred Genditzki. Sie sagt: "Ein Wiederaufnahmeverfahren ist praktisch unmöglich durchzusetzen. Die gesetzlichen Regelungen sind schon extrem restriktiv, und noch restriktiver ist die Handhabung durch die Rechtsprechung, vor allem in Bayern. Da wird jedes Urteil mit Zähnen und Klauen verteidigt."
Im Fall Genditzki kam es nur zur Wiederaufnahme, weil ein neues Gutachten vorlag, initiiert von einem Unterstützerkreis, der an Genditzkis Unschuld glaubte. Bis jetzt, so Rick, habe sie Hunderte Stunden Arbeit in den Fall gesteckt, ohne Honorar: "Natürlich wird das bei den meisten Gefangenen so sein, dass sie sich ein Wiederaufnahmeverfahren nie und nimmer leisten können".
Wohin sich Justizopfer wenden können
In anderen Ländern ist das anders. Professor Carsten Momsen von der FU Berlin ist Mitinitiator des Vereins "Fehlurteil und Wiederaufnahme". Er verweist auf das Beispiel USA. Dort würden eigene Staatsanwälte Verfahren auf mögliche Fehler prüfen. In Großbritannien gibt es die Criminal Case Review Commission, die in staatlichem Auftrag als unabhängige Instanz Anträge auf Wiederaufnahme prüft.
Der Verein "Fehlurteil und Wiederaufnahme" will auch in Deutschland Antragstellern helfen. Rund 50 Strafverteidiger sind dabei, in sogenannten Law Clinics prüfen Jura-Studenten die einzelnen Fälle. Seit zwei Jahren sind so etwa 70 Anträge beim Verein eingegangen, etwa die Hälfte davon hat potentiell Erfolgschancen und lohnt eine genauere Prüfung.
Momsen sieht die größte Hürde für Wiederaufnahmeverfahren in Besonderheiten der Strafprozessordnung. Gegen Urteile der Landgerichte ist beim Strafprozess in Deutschland nur das Rechtsmittel der Revision möglich, so Momsen. Höher gestellte Instanzen prüfen also nur, ob Gesetze richtig angewendet wurden, über die Tatsachen des Falles wird nicht mehr verhandelt. Überdies werden die Verfahren bisher nicht detailliert dokumentiert.
Momsen hält eine zentrale, unabhängige Anlaufstelle für Wiederaufnahmeanträge für sinnvoll. Die könnte sich entweder wie in den USA über Spenden finanzieren, oder durch die Gerichtskasse, also durch Strafzahlungen von Verurteilten.
Kaum Betreuung nach der Haft
Wer nach einem Justizirrtum aus der Haft entlassen wird, dem stehen häufig noch nicht einmal die Betreuungsmöglichkeiten zu, auf die etwa entlassene Strafgefangene Anspruch haben. Nach Jahren im Gefängnis stehen Betroffene oft ohne Ausweis, ohne Krankenversicherung, ohne Konto da, so Regina Rick. Nur in Baden-Württemberg haben sie Anspruch auf Übergangsbetreuung, also Hilfe bei der Job- oder Wohnungssuche.
Immerhin hat das Bundesjustizministerium nun erklärt, dass sich womöglich bald etwas ändern könnte. Ein Eckpunktepapier aus dem Ministerium soll in diesen Tagen an die Landesministerien gehen. Die müssten zustimmen, wenn es um Übergangsbetreuung für Justizopfer nach der Haft geht.
Das Problem ist nicht zu vernachlässigen: Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes hat es im vergangenen Jahr 899 Wiederaufnahmen von Strafverfahren zugunsten des Beschuldigten gegeben - und 335 Verfahren zuungunsten des Beschuldigten. Wie diese Verfahren ausgehen, wurde bislang im Ministerium nicht erfasst, das soll sich aber künftig ändern.