Holocaust-Gedenken Erinnern ohne Zeitzeugen - wird das gehen?
Vor 76 Jahren wurde Auschwitz befreit. Doch immer weniger Holocaust-Überlebende können von den Gräueltaten der Nazis berichten. Was passiert, wenn keine Zeitzeugen mehr leben?
"Überlebt habe ich zufällig", sagt Abba Naor und erzählt, wie die Nazis ihn vom litauischen Kaunas in verschiedene Konzentrationslager deportierten, er in Bayern danach einen Todesmarsch überlebte und dort dann von den Amerikanern befreit wurde. Er sitzt in einem großen, roten Ledersessel, räuspert sich.
Abba Naor ist aber nur virtuell anwesend, als lebensgroße 3D-Projektion. Man kann ihm Fragen stellen. Mittels einer Software wird aus mehr als 1000 Antworten, die er vorher aufgenommen hat, die passende zugeordnet. So entsteht das "digitale Zeugnis", ein Projekt der Ludwig-Maximilians-Universität und des Leibniz Rechenzentrums.
Digitale zeitlose Zeitzeugen
Die lebendigen Erzählungen eines echten Menschen kann das digitale Zeugnis natürlich nicht ersetzen. Einmal aufgenommen, ändern sich die Aussagen des Zeitzeugen nicht mehr. Auf aktuelle Entwicklungen kann er oder sie nicht mehr eingehen.
Das "kommunikative Gedächtnis", das durch den direkten Austausch mit Zeitzeugen entsteht, das gehe verloren, sagt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Das "kulturelle Gedächtnis" bleibe aber durch die authentischen Orte, Bilder, Geschichten, Filme und Theaterstücke erhalten.
Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann: Das "kommunikative Gedächtnis" gehe verloren.
Assmann ist überzeugt: Auch ohne Zeitzeugen "endet jetzt nicht alles, der Holocaust wird nicht Geschichte, sondern er bleibt noch Erinnerung." Um sich an etwas zu erinnern, brauche der Mensch aber einen emotionalen Bezug, sagt die Kulturwissenschaftlerin. Ideen wie die digitalen Zeugnisse sieht sie positiv. Sie bieten ihrer Ansicht nach die Chance für einen "zeitlosen Zeitzeugen".
Bezüge zur heutigen Lebenswelt
Einen emotionalen Bezug zur heutigen Lebenswelt von jungen Menschen herstellen, das versucht auch Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Zum Beispiel, wenn ein Jugendlicher selbst in seinem Alltag Erfahrung mit Diskriminierung hat. "Und plötzlich kommt der Moment, wo er erkennt: Diese Diskriminierung hat eine Geschichte. Menschen wurden in der Geschichte wegen ihrer religiösen Zugehörigkeit, aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert."
So solle jeder seinen eigenen Zugang zur Geschichte finden. Mendel geht es darum Bezugspunkte herzustellen, auch zu Völkermord und Kriegen in der Gegenwart, ohne dabei aber die Einzigartigkeit der Shoah infrage zu stellen. "Damit sagt man nicht, dass die Ereignisse alle gleich sind, auch wenn sie stückweise vergleichbar sind." Gespräche mit Überlebenden hält auch Mendel für sehr wichtig. Allerdings warnt er vor falschen Erwartungen. "Zeitzeugengespräche sind authentisch insofern, dass man mit einer realen Person spricht. Aber sie sind keine Eins-zu-eins-Abbildung der Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus."
Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank: Einen emotionalen Bezug zur heutigen Lebenswelt von jungen Menschen herstellen.
Doch was, wenn Zeitzeugen nicht mehr da sind, um von den Gräueltaten der Nazis zu berichten, davor zu warnen? Gibt das Holocaust-Leugnern und Falschdarstellungen Aufwind?
Assmann sieht diese Problematik nicht. "Denn bisher haben sich die Holocaust-Leugner ja auch nicht um die Überlebenden geschert und einfach ihre Mythen in die Welt gesetzt." Die Leugnung des Holocaust gab es immer schon, einen besonderen Auftrieb sieht sie dafür nicht. "Außer die Geschichtspolitik der AfD, die von einer erinnerungspolitischen Wende von 180 Grad fantasiert", sagt Assmann.
Erinnerung als gesamtgesellschaftliche Verantwortung
Damit Erinnerung auch in Zukunft lebendig bleibt, braucht es Menschen, die Geschichte weitererzählen. Wie zum Beispiel die amerikanische Journalistin Rachel Cerrotti. In ihrem Podcast "We share the same sky" erzählt sie von der Flucht ihrer Großmutter vor den Nationalsozialisten - und den Lehren, die sie im Hier und Jetzt daraus zieht.
Was die oft beschworene Botschaft des "Nie wieder" angeht, ist Cerrotti skeptisch: "Völkermorde haben weiter stattgefunden. Der Hass hat weiter zugenommen. Rhetorik gegen Einwanderer ist da, Islamophobie, Antisemitismus. Tun wir also nicht so, als hätten wir dieses magische Kraftfeld von Überlebenden, die den Hass stoppen." Es liege auch nicht in der Verantwortung von Holocaust-Überlebenden, Hass und Ausgrenzung zu überwinden.
"Die zweite Generation, die dritte Generation - und nicht nur diejenigen, die von Überlebenden abstammen - jeder hat die Verantwortung, diese Erinnerung zu nutzen, der Geschichte gegenüber verantwortlich zu handeln und für das einzustehen, was richtig ist."