Interview "Katastrophen sind weniger sichtbar"
Schmerzen von Patienten durch Medizinprodukte und die psychologischen Folgen könne man nicht so gut sehen wie Contergan-Schäden. Das sei ein Grund, warum Implantate weniger streng reguliert seien als Arzneimittel, sagt Professor Carl Heneghan.
tagesschau.de: Wodurch unterscheiden sich Arzneimittel und Medizinprodukte hinsichtlich des Risikos für Patienten?
Carl Heneghan: Der Vorteil eines Medikaments ist, dass man es absetzen kann, wenn man es nicht verträgt. Wenn man ein Implantat schlecht verträgt, wird es schwierig. Man kann den Gebrauch nicht einfach stoppen oder es herausnehmen. Deshalb würde man erwarten, dass Implantate eine bessere Aufsicht und höhere Sicherheitsanforderung brauchen. Doch genau das passiert nicht. Wir verfolgen nicht mal, wie es Patienten geht mit ihren Implantaten. Es gibt keine Stelle, die weiß, welcher Patient welche Implantate hat. Deshalb wäre es wichtig, ein Implantateregister zu haben, also eine Registrierung für Geräte wie Knie- oder Hüftgelenke.
tagesschau.de: Man könnte also sagen, dass die unerwünschten Wirkungen von Implantaten in einem toten Winkel liegen?
Heneghan: Ja.
Die Unterschiede bei der Zulassung
tagesschau.de: Wie unterscheiden sich Medizinprodukte und Medikamente in der Zulassung?
Heneghan:Wenn Sie ein Medikament entwickeln, testen Sie es zunächst an Tieren, dann gehen sie zu einer kleinen Gruppe von gesunden Menschen, um allergische Reaktion und ähnliches zu testen. Dann folgt, was eine Phase-2-Studie genannt wird. Da probieren sie verschiedene Dosen aus. Und dann kommt eine große Vergleichs-Studie mit vielen Patienten in verschiedenen Prüfzentren. Wenn sie ein Gerät nehmen, testen sie es dagegen nur an ein paar Tieren und schreiben dann im Grunde genommen eine Literaturübersicht. Sie vergleichen es mit anderen Geräten und können es dann direkt auf den Markt bringen - und hoffen, dass es funktioniert.
tagesschau.de: Wie kommt es, dass die Anforderungen für Arzneimittel so viel höher sind als für Geräte?
Heneghan: Das ist eine Folge der Contergan-Katastrophe. Erst danach wurden die Anforderungen für Medikamente erhöht, und man brauchte klinische Studien. Für Medizinprodukte ist das nicht der Fall, weil man nie eine Katastrophe hatte, die so gut sichtbar war wie Contergan. Schmerzen von Patienten und die psychologische Folgen kann man nicht so gut sehen.
Mehr Studien sind möglich
tagesschau.de: Die Industrie sagt: Wir können keine randomisierte Studie mit Implantaten durchführen, weil man einer Person nicht zwei verschiedene Arten von Hüften einbauen kann?
Heneghan: Das ist ein Unsinns-Argument, wir machen hier in Oxford viele Versuche. Es gab zum Beispiel eine entsprechende Untersuchung bei der Kniearthroskopie, die gezeigt hat, dass eine Scheinbehandlung genauso gut war wie die echte Arthroskopie. Wir haben das Gleiche bei einem Eingriff an der Schulter gesehen. Nach meiner Erfahrung gibt es nur sehr wenige Situationen, in denen man keine randomisiert-kontrollierte Studie braucht.
tagesschau.de: Die Industrie argumentiert, dass Nebenwirkungen normal sind.
Heneghan: Klar, es gibt kein Medikament oder Implantat, das keine Nebenwirkungen hat. Man möchte aber wissen, wie häufig die sind. Wenn eine keramische Hüfte einen Ausfall von drei Prozent nach zehn Jahren hat, würden Sie sicherlich wissen wollen, ob eine andere Hüfte eine Ausfallrate von zehn Prozent nach drei Jahren hat. Es geht um die Schwere und Anzahl von Nebenwirkungen. Einen Ausschlag nehme ich vielleicht in Kauf. Aber wenn ich weiß, dass ich bei einem Produkt womöglich lebenslange chronische Schmerzen habe, dann würde ich das vorher gern wissen.
tagesschau.de: Die Industrie kämpft gegen strengere Regeln und sagt, solche Vorschriften würden Innovationen verhindern.
Heneghan: Es hängt sehr stark davon ab, was man unter dem Begriff Innovationen versteht. Wenn man meint, dass man mit den neuen Regeln nicht mehr so viel Geld verdienen wird, dann ist die Antwort darauf wahrscheinlich ja.