Menschen mit Behinderung Inklusion ausgeschlossen
Menschen mit Behinderung trifft die Corona-Krise besonders hart. Vor allem auf dem Arbeitsmarkt entstehen durch die Pandemie neue Barrieren.
"Wenn ich Covid-19 bekommen würde, dann würde das tödlich für mich ausgehen", sagt Ruth Sartor. Die 59-Jährige sitzt im Rollstuhl, hat eine Schädigung des zentralen Nervensystems und chronische Bronchitis. Seit Mitte März ist sie deswegen in häuslicher Isolation und wird von einem Pflegedienst betreut. 38 Jahre lang hat Sartor als Telefonistin in einer Mainzer Werkstatt für Menschen mit Behinderung gearbeitet, bis zur Zwangspause. Es sei das erste Mal in all den Jahren, dass für sie soziale Teilhabe, auch am Berufsleben, in weite Ferne gerückt sei. "Ich habe noch Kontakt durch Videokonferenzen, aber das ist nicht dasselbe", erzählt Sartor. "Die Mitarbeiterinnen und Freundinnen - die fehlen schon."
Zwangspause wegen Corona: 38 Jahre lang arbeitete Ruth Sartor als Telefonistin, jetzt ist sie zu Hause.
Gut integriert - und dann kam die Corona-Krise
Die Kolleginnen und Kollegen, die noch in der Behindertenwerkstatt arbeiten, berichten Ähnliches. Etwa Marc Neumann. Obwohl der 32-Jährige eine Lernbehinderung hat, ist er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt integriert gewesen. Von der Werkstatt war er "ausgeliehen" und hatte im Restaurant eines Mainzer Hotels gearbeitet, auf einem sogenannten Außenarbeitsplatz. Dann kam die Corona-Krise. "Uns wurde gesagt, dass wir gehen müssen", sagt Neumann, von einem Tag auf den anderen. Jetzt ist er zurück in der Werkstatt und arbeitet dort in der Küche, schneidet Obst und Gemüse, verpackt es danach. Eine ähnliche Arbeit wie im Restaurant, aber in Sachen Inklusion ein Rückschritt.
Mindestens 20.000 Menschen sind nach Angaben der "Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen" (BagWfbM) auf Außenarbeitsplätzen beschäftigt. Wie viele davon nun weggefallen sind, kann der Verein nicht beziffern. Es sei aber bekannt, dass Unternehmen teils Außenarbeitsplätze abschaffen müssen, um Kurzarbeitergeld beantragen zu können. Eine Kompensationszahlung für die Menschen mit Behinderung, analog zum Kurzarbeitergeld, gebe es nicht. Die Werkstätten seien letzten Endes das Auffangnetz, sagt eine Sprecherin.
Kaum noch Praktika möglich
Das spüren sie auch in Mainz. "Die Öffnung der Gesellschaft stößt zurzeit an ihre Grenzen", berichtet Michael Huber. Er ist der Geschäftsführer von "in.betrieb", wo neben Sartor und Neumann 600 Menschen mit Behinderung beschäftigt sind. "Wir haben dieses Jahr einige Rückschläge einstecken müssen", erzählt der Geschäftsführer. Zum Beispiel bei Praktikumsstellen: 20 bis 30 Praktika vermittelt das Unternehmen normalerweise jährlich; dieses Jahr sei kaum eines möglich gewesen. Neben den Außenarbeitsplätzen seien Praktika eine wichtige Möglichkeit für Menschen mit Behinderung, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. "Und das ist eigentlich auch unsere gesetzliche Aufgabe als Werkstatt, die Menschen für die berufliche Teilhabe zu qualifizieren", sagt Huber.
Im November meldeten sich 13 Prozent mehr schwerbehinderte Menschen arbeitslos als im Vorjahresmonat.
Auch diejenigen, die den Sprung auf den Arbeitsmarkt geschafft haben, trifft die Krise. 171.800 arbeitslose schwerbehinderte Menschen hat die Bundesagentur für Arbeit im November registriert, etwa 13 Prozent mehr als im Vergleich zum Vorjahresmonat. Der Anstieg ist damit geringer als der der Gesamtarbeitslosigkeit mit 23,8 Prozent. Erklären lässt sich das etwa mit dem oftmals besonderen Kündigungsschutz für Menschen mit Behinderung. "Allerdings: Werden Menschen mit Schwerbehinderung arbeitslos, brauchen sie länger, um die Arbeitslosigkeit wieder zu beenden", teilt die Bundesagentur für Arbeit auf Nachfrage mit. Außerdem tauchen Menschen wie Marc Neumann, die von der Behindertenwerkstatt aufgefangen werden, nicht in der Statistik auf.
100 Millionen Euro vom Bund
Neben den Werkstätten sind es vor allem Inklusionsunternehmen, die behinderten Menschen berufliche Chancen bieten. Mindestens 30 Prozent der Belegschaft haben bei diesen Unternehmen eine Behinderung. "Wir haben in den vergangenen Jahren eine Gründungswelle von Inklusionsbetrieben in Hotellerie, Gastronomie und der Eventbranche erlebt", sagt Claudia Rustige, Geschäftsführerin der "Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen". Alles Branchen, die von der Corona-Krise besonders betroffen sind. Der Bund hat für Behindertenhilfe, also auch für Inklusionsbetriebe und Werkstätten, ein Finanzhilfeprogramm von 100 Millionen Euro auf den Weg gebracht. "Wir hoffen, dass das Geld im Januar ausgezahlt wird", sagt Rustige.
Digitale Barrierefreiheit mangelhaft
Hoffnung macht auch die Digitalisierung. Die Arbeit im Homeoffice mit digitalen Hilfsmitteln biete großes Potenzial für Inklusion, heißt es in einer nicht-repräsentativen Studie der "Aktion Mensch" aus dem November. Die digitale Barrierefreiheit, zum Beispiel von Software, sei aber mangelhaft. Arbeitgeber wie auch private Anbieter von Dienstleistungen und Produkten müssten zur Barrierefreiheit verpflichtet werden, fordert die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele. "Das wird seit Jahren mit Bravour verschlafen, jetzt zahlen die Betroffenen den Preis dafür. Wir müssen jetzt die Weichen dafür stellen, damit die Pandemie die Uhren für Menschen mit Behinderungen nicht zurückdreht."
Ruth Sartor, die Telefonistin aus Mainz, könnte sich eine Arbeit im Homeoffice durchaus vorstellen, auch wenn das nicht leicht umsetzbar sei. Ihr Kollege Marc Neumann will so schnell wie möglich wieder auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Ihm schwebe noch einmal ein Praktikum vor, sagt er, am liebsten in einer Kindertagesstätte. Dort zu arbeiten - das sei sein Traumberuf.