Atomkraftwerk Saporischschja Eine Gefahr für das Stromnetz?
Beschuss, Belagerung und Angst vor Cyberattacken: Am Atomkraftwerk Saporischschja herrscht Dauergefahr. Steigt dadurch das Blackout-Risiko auch in Deutschland? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie groß ist die Blackout-Gefahr in Deutschland?
Deutschland ist mit anderen europäischen Ländern in einem Netz verbunden, deshalb lässt sich diese Frage nicht allein für ein Land betrachten. Das europäische System sei durch mehrere Schutzmechanismen gesichert, heißt es aus der Bundesnetzagentur. Es sei "mehrfach redundant ausgelegt", sodass "selbst bei größeren Störungsereignissen ein völliger Zusammenbruch des Übertragungsnetzes verhindert" werden könne, sagt Michael Reifenberg, Sprecher der Bundesnetzagentur.
Im Notfall würde man entscheiden, "die Ukraine unverzüglich und sicher wieder vom restlichen europäischen Verbundnetz zu trennen". Für die Bundesnetzagentur steht fest: "Ein großflächiger Blackout ist äußerst unwahrscheinlich."
Die Verantwortlichen in der Ukraine müssten dann "das Netz im Inselmodus wieder rebooten", sagt Energieberater Rouven Stubbe, Energieexperte bei Berlin Economics und dort im Projekt Low Carbon Ukraine, das - finanziert vom deutschen Umweltministerium - das ukrainische Energie- und Umweltministerium berät. Erst wenn das gelungen sei, würde das ukrainische Netz wieder an das europäische angeschlossen werden. Aber bevor es überhaupt soweit kommt, dass das Netz hierzulande betroffen ist, greifen schon in der Ukraine verschiedene Notfallmaßnahmen.
Wie kann das ukrainische Netz ein Übergreifen verhindern?
Es gibt mehrere Schutzmechanismen, die greifen würden. "Manche davon funktionieren innerhalb von Sekunden", erklärt Rouven Stubbe. "Andere innerhalb von 15 Minuten oder ein bis zwei Stunden."
Wenn ein größeres Kraftwerk ungeplant ausfalle, dann werde zuerst Energie von Reservekraftwerken bereitgestellt, beispielsweise von ukrainischen Kohlekraftwerken. "Und falls das nicht ausreicht, dann fällt die Netzfrequenz im ukrainischen Stromnetz ab", sagt Stubbe. Dann würde Strom aus Nachbarländern in die Ukraine fließen, um das auszugleichen.
Als nächsten Schritt könnte es "kontrollierte lokale Stromausfälle" geben. Grundsätzlich würde vor allem der Süden des Landes vom Kraftwerk Saporischschja abhängen, dort käme es zu den größten und womöglich länger dauernden Problemen.
Welche Rolle spielt die Strommenge aus der Ukraine?
Im Moment werden vergleichsweise geringe Strommengen zwischen der Ukraine und der EU ausgetauscht. Auch das trage dazu bei, dass das europäische Netz durch Ausfälle in der Ukraine kaum gefährdet wäre, sagen Experten: "Rein technisch sind die Leitungen ausgelegt für 1,5 bis zwei Gigawatt", so Stubbe. "Wirklich exportiert wird aber gerade wesentlich weniger." Laut dem staatlichen Energieunternehmen Ukrenerho sind es 500 bis 600 Megawatt. Eine deutliche Ausweitung würde voraussetzen, dass schnell neue Leitungen gebaut oder alte Leitungen aus der Sowjetzeit reaktiviert werden.
Warum sind die beiden Netze überhaupt verbunden?
Das war seit mehreren Jahren geplant, wurde aber durch den Krieg beschleunigt: Am 24. Februar dieses Jahres, als der russische Angriff begann, testete die Ukraine - von langer Hand organisiert und nun zufällig am ersten Kriegstag - ob ihr Stromnetz auch autonom funktioniert, unabhängig vom Netz Russlands.
Der Anschluss ans europäische Stromnetz sollte eigentlich erst 2023 erfolgen. Doch nach dem Test ging alles ganz schnell: Seit Mitte März ist das ukrainische Netz mit dem kontinentaleuropäischen verbunden, seit Anfang Juli liefert die Ukraine Strom in die EU.
Das sei nur eine "erste Etappe", man könne bald aufstocken, versprach der ukrainische Präsident Selenskyj. "Beide Seiten profitieren", twitterte Ursula von der Leyen erfreut. Ziel des deutschen Umweltministeriums ist, dass langfristig nicht vorrangig Atomstrom, sondern immer mehr Strom aus Erneuerbaren Quellen von der Ukraine in die EU fließt.
Was bedeutet die Sicherheitslage für zukünftige Energieimporte aus der Ukraine?
Die Ukraine hat mehrfach angeboten, schnell noch mehr Strom zu liefern. Das sei für Deutschland eine Art "Versicherungspolster", wenn zu bestimmten Zeiten weniger Wind- und Solarenergie zur Verfügung stehe, wirbt der ukrainische Energieminister German Galuschenko. Gleichzeitig würde es der Ukraine Einnahmen sichern - und könnte helfen, die Energiewende dort voranzutreiben.
"Eigentlich hat die Ukraine ein großes Potenzial, insbesondere für Solar- und Windenergie im Süden des Landes", sagt Rouven Stubbe. Seine Gesprächspartner, etwa im ukrainischen Energie- und Umweltministerium, hofften auf eine langfristige Perspektive des Stromhandels.
"Aber unter Kriegsbedingungen muss man sich sehr genau überlegen, ob man da noch mehr reingehen will", sagt Stubbe. Auch die Bundesnetzagentur prüft jede Ausweitung genau, denn das habe "direkten Einfluss auf die Sicherheit der Stromversorgung", sagt Michael Reifenberg. Mehr Handelskapazität gebe es nur, "wenn es unter Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit möglich ist".
Wodurch ist die Gefahr eines Ausfalls von Saporischschja gerade am größten?
Ein Atomkraftwerk braucht selbst relativ große Mengen Strom, unter anderem um die Reaktoren zu kühlen. Werden Leitungen zerstört, dann müssen Diesel-Generatoren einspringen. "Das wäre ein ganz kritischer Moment", sagt Energieexperte Rouven Stubbe. "Wenn der Notstrom ausfällt, kann es zur Kernschmelze kommen."
Nach Angaben des ukrainischen Betreibers Enerhoatom drohe Russland, das AKW an das Stromnetz der annektierten Halbinsel Krim anzuschließen. Dazu müssten die Leitungen zum ukrainischen Energiesystem beschädigt werden. "Dass es dadurch zum nuklearen Zwischenfall kommt, ist die größte Angst, die wir gerade von unseren ukrainischen Gesprächspartnern hören", sagt Stubbe. Im Moment beschuldigen sich beide Seiten gegenseitig, die Infrastruktur zu zerstören.
Zusätzlich könnte es aber auch durch Cyberattacken zu einem Ausfall des größten europäischen Atomkraftwerkes kommen. Laut Ukrenerho gibt es seit dem ersten Kriegstag massive Angriffe auf die IT des Unternehmens.