Julia Reuschenbach
interview

Ende der Ampelkoalition "Über Nacht in den Wahlkampfmodus"

Stand: 07.11.2024 15:27 Uhr

Das Ende des Bündnisses aus SPD, Grünen und FDP verlief dramatisch. Im Interview spricht Politikwissenschaftlerin Reuschenbach darüber, was das Ampel-Aus für die kommenden Wochen und für künftige Koalitionen bedeuten könnte.

tagesschau24: Wie spannend ist es jetzt für sie, die Kommunikation der letzten 24 Stunden zu analysieren? 

Julia Reuschenbach: Als Politikwissenschaftlerin kann man natürlich nicht geheim halten, dass das alles hochinteressant und spannend ist und man sich darüber freut, das beobachten zu können. Als Bürgerin des Landes gebe ich aber auch offen zu, dass das bewegende Zeiten sind und weitreichende Zeiten, und insofern ist es ein gemischtes Gefühl, mit dem man auf das schaut und sich schon fragt, wenn wir in den USA gestern früh anfangen und hier in Deutschland, in Berlin gestern Abend enden, was so an einem einzigen Tag alles an Bewegungen stattfinden kann und uns jetzt über Monate, womöglich Jahre beschäftigen wird. 

Julia Reuschenbach
Zur Person

Julia Reuschenbach lehrt und forscht seit 2022 beim Fachbereich Politik und Sozialwissenschaften
am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre Schwerpunkte sind unter anderem Wahl- und Parteienforschung sowie Politische Kommunikation.

tagesschau24: Schauen wir auf die Wortwahl: Finanzminister Lindner sprach von einer Phase der Unsicherheit, Kanzler Scholz wiederum von Steuerentlastungen, Sofortmaßnahmen für die Industrie, stabile Renten - viele positive Wörter. Was würden Sie sagen, wieviel Basis haben diese Worte und wieviel ist Schönrederei? 

Reuschenbach: Was wir gestern von Olaf Scholz gehört haben, war im Grunde noch mal deutlich zu machen, dass er doch den Eindruck hat, dass diese Koalition auch Dinge erreicht hat, und das wollte er hervorstellen - natürlich im Grunde als Auftakt zu einem beginnenden Wahlkampf, in dem er ja potenziell auch wieder mit der SPD ins Rennen gehen will. Auch Christian Lindner hat klar gemacht, dass er seiner Partei ein klares Profil zuschreibt. Wir sind im Grunde jetzt über Nacht schon in den Wahlkampfmodus geraten.

Die Schwierigkeit für Bürgerinnen und Bürger ist aber sicherlich zum einen erstmal nachzuvollziehen, was da gerade überhaupt passiert. Was sind die formalen Vorgaben, was steht im Grundgesetz, was kann jetzt stattfinden? Und natürlich sich dann auch zu fragen, von dem was man erreicht hat und was man womöglich noch erreichen kann, was davon in einem Realitätscheck standhält.

Wir sehen jetzt eine Koalition ohne Mehrheit, und das heißt zunächst mal, dass nicht zu erwarten ist, dass all die genannten Vorhaben, von der Rente über Migration bis hin zum großen Thema Bundeshaushalt, überhaupt noch eine Chance finden, erfolgreich verabschiedet zu werden. Es kann auch sein, dass wir in eine Phase des Stillstands geraten, die womöglich auch noch verbunden sein wird mit einer Phase einer sehr langwierigen vorläufigen Haushaltsführung.

Die Aussichten darauf, dass jetzt noch große Schritte gemacht werden, sind aus meiner Sicht eher überschaubar. Am ehesten würde ich damit rechnen, dass man sich womöglich zwischen den noch verbliebenen Regierungsparteien und der Unionsfraktion auf Gemeinsamkeiten einigt im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, gerade angesichts der Weltlage. 

"Überraschend persönlich"

tagesschau24: In Scholz' Statement gab es auch Kritik. Zu oft habe Bundesminister Lindner Gesetze sachfremd blockiert, zu oft habe er kleinkariert parteipolitisch taktiert. Wie ordnen Sie diese scharfen Äußerungen ein?

Reuschenbach: Das war für viele, die das beobachtet haben, gestern überraschend persönlich. Es waren wirklich persönliche Angriffe auf den Bundesfinanzminister. Wir haben Stimmen gehört, dies sei sozusagen eines Kanzlers unwürdig, auch wenn man miteinander im Streit ist, muss man das anders beenden in den Tonalitäten, die man wählt. Andere haben gesagt, dass daraus deutlich wird, was da in drei Jahren an Frust, an Unmut wechselseitig entstanden ist.

Ich glaube, es deutlich ist geworden: Das Porzellan ist zerschlagen. Und das wirft zumindest aus meiner Sicht als Politikwissenschaftlerin auch noch mal ganz andere Fragen auf. Nämlich nicht nur die, wer gestern über wen wie gesprochen hat. Sondern auch, wer mit wem in der Zukunft überhaupt arbeitsfähig sein kann.

Denn es ist ja nicht zu erwarten, dass wir wieder dahin kommen, wie wir es sozusagen aus historischen Zeiten kennen, dass wir stabile Zweierbündnisse erwarten können. Sondern wir werden womöglich wieder eine schwierige Regierungsbildung auf Bundesebene sehen. Und dann ist die Frage: Können zum Beispiel SPD und FDP - so die FDP in den Bundestag einziehen würde - noch miteinander arbeiten? Wie ist das Verhältnis zwischen Grünen und FDP und so weiter?

Da stehen jetzt große Grundatzfragen im Raum, die uns hoffentlich nicht davon abhalten, im Blick zu behalten, dass es auch andere Kräfte gibt - populistische in Teilen, extremistische Kräfte, die genau darauf warten, dass demokratische Parteien zunehmend weniger miteinander arbeitsfähig werden. Und die sicherlich im Rahmen von Neuwahlen versuchen werden, möglichst wirkmächtig im Deutschen Bundestag vertreten zu sein. 

"Es bleibt anstrengend und kompliziert"

tagesschau24: Wagen Sie denn da eine konkretere Prognose, wer mit wem wie arbeiten könnte? 

Reuschenbach: Prognosen und Glaskugeln sind nicht so das Terrain der Wissenschaft. Ich glaube, wir werden neu darüber sprechen müssen in den nächsten Monaten und Jahren, wie wir mit Kompromissen umgehen. Wie sehr die aktuelle Gesamtlage weltweit, die Transformation, vor der unser Land steht in ganz vielen Politikfeldern, es sehr unterschiedlichen politischen Partnern abverlangt, miteinander Kompromisse einzugehen und Kompromisse auch nicht nur als notwendiges Übel zu betrachten, sondern tatsächlich als ein neues Drittes, als Erfolge auch für sich selbst.

Ich glaube, am Ende müssen alle, die demokratisch fest auf dem Boden dieser Verfassung stehen und ein Interesse daran haben, dass dieses Land vorankommt, miteinander gesprächsfähig sein. Insofern halte ich potenziell all die Koalitionen, über die wir in der Vergangenheit gesprochen haben, auch im nächsten Jahr für möglich. Aber ich bin sicher, wir werden nicht dadurch, dass wir jetzt ein Ende dieser Ampel sehen, uns darauf ausruhen oder darauf hoffen können, dass es einfacher würde. Sondern ich würde damit rechnen: Es bleibt so anstrengend, so kompliziert, wie wir es in den letzten drei Jahren auch sehen konnten. 

Das Gespräch führte Damla Hekimoğlu für tagesschau24. Für die schriftliche Version wurde es redigiert und gekürzt.