Christian Lindner
Analyse

Lindners Steuerkonzept Ist der Plan gerecht? Für alle?

Stand: 10.08.2022 16:52 Uhr

Finanzminister Lindner sagt, seine Steuerpläne seien fair und gerecht. Andere halten sie dagegen für sozial unausgewogen. Was stimmt? Lässt sich die Frage nach der Gerechtigkeit objektiv beantworten?

Eine Analyse von Hans-Joachim Vieweger, ARD-Hauptstadtstudio

Für Gerechtigkeit sind alle. Doch schon bei der Frage, was unter Gerechtigkeit zu verstehen ist, scheiden sich die Geister. Soll es im Kern um Leistungsgerechtigkeit gehen - wer mehr leistet, der bekommt auch mehr? Oder um Chancengerechtigkeit, eine Frage, die häufig im Bildungsbereich eine Rolle spielt? Oder soll es um Verteilungsgerechtigkeit gehen - also um den Versuch, für eine angemessene Verteilung von Gütern zu sorgen?

Letztlich spielen diese Fragen auch beim Blick auf die aktuellen Steuerpläne von Finanzminister Lindner (FDP) eine Rolle. Wer vor allem auf die Leistungsgerechtigkeit wert legt, dürfte zu anderen Ergebnissen kommen als derjenige, der vor allem auf Verteilungsfragen schaut.

Gerechtigkeit im Steuersystem

Das bundesdeutsche System der Lohn- und Einkommenssteuer sieht vor, dass derjenige, der mehr verdient, nicht nur - wie es bei einem rein linearen Steuertarif der Fall wäre - proportional höhere Steuern zahlt. Vielmehr steigen mit höherem Einkommen auch die Steuersätze - von einem progressiven Steuertarif ist dann die Rede.

Wer fünf Prozent mehr verdient, zahlt also nicht fünf Prozent mehr Steuern, sondern mehr. Das mag in normalen Zeiten verkraftbar sein, schließlich hat man auch mehr in der Tasche. Doch in Zeiten von Inflation sieht es anders aus: Da kann die Kaufkraft trotz steigender Löhne sinken, man hat zwar mehr in der Tasche, kann sich aber weniger leisten. Nur der Staat profitiert von der Inflation durch höhere Steuereinnahmen - Stichwort: "kalte Progression".

Steuer der Inflation anpassen

Aufgrund dieser Systematik muss der Staat, wenn er die Bürger nicht über Gebühr belasten will, den Steuertarif an die Inflationsentwicklung anpassen. Seit einigen Jahren legt das Bundesfinanzministerium dazu regelmäßig einen so genannten "Progressionsbericht" vor.

In der Folge wurden jeweils ähnliche Korrekturen im Steuersystem vollzogen, wie sie Lindner nun vorgeschlagen hat. So wurden der Grundfreibetrag und der Kinderfreibetrag regelmäßig erhöht und die Tarifeckwerte nach oben verschoben - was bedeutet, dass ein bestimmter Steuersatz erst bei einem höheren Einkommen als bisher fällig wird.

Der Verzicht auf solche Maßnahmen wäre in dem Sinn ungerecht, als dass der Staat ansonsten heimliche Steuererhöhungen vollziehen würde - ohne dass darüber diskutiert, geschweige denn abgestimmt würde.

Im aktuellen Steuersystem gerecht

In dem Sinn hat Lindner Recht: Seine Pläne sind innerhalb des bestehenden Steuersystems in sich stimmig - und insofern gerecht. Das gilt auch, wenn man die Verteilungswirkungen in den Blick nimmt: Zwar profitiert in absoluten Zahlen derjenige am meisten, der am meisten verdient. Aber es ist derjenige, der ansonsten am meisten von der "kalten Progression" betroffen wäre.

Relativ gesehen - also im Vergleich zum eigenen Einkommen - profitieren sogar Niedrigverdiener mehr von den Korrekturen im Steuerrecht. So dürfte ein Single mit einem Einkommen von 20.000 Euro um gut fünf Prozent weniger zahlen, ein Single mit einem Einkommen von 100.000 Euro um 1,5 Prozent.

Ärmere Haushalte leiden am meisten

Doch natürlich ist auch ein anderer Blick auf die Steuerpläne denkbar. Ausgehend von der Summe von zehn Milliarden Euro, auf die Bund, Länder und Kommunen nach Einschätzung von Lindner verzichten müssen, lässt sich die Frage stellen: Wie würde eine möglichst gerechte Verteilung aussehen, wenn diese zehn Milliarden Euro auf der Ausgabenseite zur Verfügung stünden?

Nun ist es so, dass ärmere Haushalte derzeit am meisten unter den Preissteigerungen leiden. So ist der Anteil der Ausgaben für Strom und Wärme bei ihnen deutlich höher als bei reicheren Haushalten.

Dementsprechend sollte sich die staatliche Unterstützung stärker auf die ärmeren Haushalte konzentrieren, fordern SPD, Grüne, Linke und Wohlfahrtsverbände. Gerecht - das würde in dieser Argumentation bedeuten, dass derjenige, der mehr Hilfe benötigt, mehr Geld vom Staat bekommt. Zum Beispiel über direkte Zuschüsse. Dafür sprechen sich auch zahlreiche Ökonomen aus.

Werte - keine Objektivität

Das Problem ist: Gerechtigkeit im Steuersystem und Gerechtigkeit bei Verteilungsfragen sind nicht objektiv feststellbar. Es handelt sich vielmehr um Wertentscheidungen. Wer auf die Korrekturen im Steuertarif zugunsten von direkten Zuschüssen an besonders Bedürftige verzichten will, sollte ehrlicherweise zugeben, dass dies eine indirekte Steuererhöhung darstellen würde.

Wer umgekehrt auf die - in sich stimmigen - Maßnahmen zur Bekämpfung der Kalten Progression pocht, muss ebenso ehrlich zugeben, dass die Mittel für direkte Zuschüsse begrenzt sind.

Hinweis: In einer früheren Version des Beitrags hieß es, eine Erhöhung des Grundfreibetrags habe, je nach Höhe des Einkommens, eine unterschiedliche Wirkung. Das trifft nicht zu: Eine Erhöhung des Grundfreibetrags wirkt sich für alle Steuerzahler gleich aus. Wir bitten das Versehen zu entschuldigen.

Hans-Joachim Vieweger, Hans-Joachim Vieweger, ARD Berlin, 10.08.2022 17:34 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 10. August 2022 um 16:05 Uhr.