Ein Jahr nach Hanau-Anschlag "Wir sind alle in der Verantwortung"
Deutschland habe ein wachsendes Rassismusproblem, sagt SPD-Generalsekretär Klingbeil. Ein Jahr nach dem Anschlag von Hanau wurde politisch zwar einiges auf den Weg gebracht - aber: "Nazis müssen auf vielen Ebenen bekämpft werden."
tagesschau.de: Ein Jahr nach dem rassistisch motivierten Anschlag von Hanau fühlen sich viele Angehörige von der Politik alleingelassen. Welche Fehler wurden gemacht?
Lars Klingbeil: Erstmal muss man an so einem Tag innehalten und sich bewusst machen, was da vor einem Jahr mitten in Deutschland passiert ist. Da sind Menschen aufgrund ihrer vermeintlichen Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihres Glaubens umgebracht worden von einem rassistischen Mörder.
Und offenbar sind Fehler geschehen - der Notruf war in der Nacht des Anschlags zeitweise nicht erreichbar, Opfer wurden teilweise ohne Zustimmung der Angehörigen obduziert. Das muss von den zuständigen Stellen in Hessen aufgearbeitet werden. Ich kann das verstehen, dass sich Angehörige nun alleingelassen fühlen. Politik muss hier einfach besser werden. Da sind wir auch alle in der Verantwortung.
tagesschau.de: Das heißt konkret?
Klingbeil: Die SPD hat auf der Bundesebene viel angestoßen. Über den Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rassismus wurden 89 konkrete Maßnahmen beschlossen - und ich erwarte, dass die trotz Corona-Krise jetzt auch umgesetzt werden.
Lars Klingbeil ist seit Dezember 2017 Generalsekretär der SPD. Damals hieß der Parteichef noch Martin Schulz. Auf dem Parteitag im Dezember 2019 wurde Klingbeil im Amt bestätigt. Der Kampf gegen Rechtsextremismus gehört zu den Schwerpunkten seiner politischen Arbeit.
"Wir waren laut"
tagesschau.de: 89 Einzelmaßnahmen - das klingt gut. Aber wo ist der Aufschrei, der Ruck, der durch diese Gesellschaft gehen müsste?
Klingbeil: Es wurde nach Hanau viel Konkretes angestoßen. Die Stärkung von Zivilgesellschaft, der Kampf gegen Hetze im Netz und die bessere Ausstattung von Sicherheitsbehörden. Wir waren auch laut. Und ich habe den Ruck in der Gesellschaft deutlich gespürt: Wir akzeptieren es nicht, dass Menschen in unserer Gesellschaft von einem Rassisten ermordet werden. Deswegen sind wir auch in diesem Jahr weiter laut und gedenken der Opfer.
tagesschau.de: Als Olaf Scholz kürzlich seine Wahlkampfthemen vorstellte, ging es um ökologischen Umbau, Digitalisierung - der Kampf gegen Rassismus in unserer Gesellschaft wurde nicht genannt.
Klingbeil: Die SPD kämpft seit ihrer Gründung 1863 für die offene Gesellschaft. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wurden von Nazis verfolgt und ermordet. Der Kampf gegen Rassismus steckt in der DNA der SPD.
Am Tag nach den Morden in Hanau habe ich eine parteiübergreifende Mahnwache am Brandenburger Tor angemeldet. Saskia Esken hat eine Debatte über Rassismus in den Sicherheitsbehörden angestoßen. Franziska Giffey hat das Demokratiefördergesetz durchgesetzt. Also: Wir machen das laut und deutlich und setzen auch konkret um. Damit sich die Gesellschaft auch ganz praktisch mit dem Rassismusproblem auseinandersetzt.
"Keine Einzeltäter"
tagesschau.de: Das heißt, Deutschland hat ein Rassismusproblem. Nach dem Mord an Walter Lübcke, nach den Anschlägen in Halle und Hanau - alles übrigens innerhalb von neun Monaten - wurde ja immer wieder die These des Einzeltäters bemüht.
Klingbeil: Und die These ist eindeutig falsch. Das sind alle keine Einzeltäter. Es hat vielleicht einer geschossen, aber es sind viele, die sie geistig munitioniert und aufgeladen haben - dazu gehört übrigens auch die AfD, die im Parlament sitzt und dafür sorgt, dass das gesellschaftliche Klima vergiftet wird.
tagesschau.de: Indem sie spaltet und ausgrenzt?
Klingbeil: In ihrer ganzen Rhetorik und Programmatik teilt die AfD dieses Land in "wir Deutschen" und "die Anderen". In der Logik der AfD sind in Hanau "die Anderen" gestorben. Und das stimmt nicht. Die Opfer von Hanau gehörten zu unserem Land, zu unserer Gesellschaft. Sie lebten hier, und sie wurden umgebracht aus rassistischen Motiven.
"AfD steht für rechtsextremes Gedankengut"
tagesschau.de: Am Tag nach dem Anschlag haben sie die Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz gefordert. Das Problem verschwindet dadurch aber nicht.
Klingbeil: Der Kampf gegen Nazis muss auf vielen Ebenen stattfinden. Politisch argumentativ in den Parlamenten, über die Sicherheitsbehörden, auf der Straße. Aber für mich gehört auch dazu, dass der Verfassungsschutz Verfassungsfeinde beobachtet - und in immer mehr Bundesländern passiert das ja auch. Denn es ist ja nicht so, dass nur ein bestimmter Teil dieser Partei von Nazis durchsetzt ist, sondern die Partei als Ganzes steht für rechtsextremes Gedankengut. Und sie zeigt zunehmend ihr wahres Gesicht und traut sich immer mehr, ihre Ideologie offenzulegen. Die AfD versucht gar nicht mehr, bürgerlich zu tun.
tagesschau.de: Die Sicherheitsbehörden beobachten seit einiger Zeit eine Vermischung zwischen Rechtsextremen und "Querdenkern"...
Klingbeil: Es hat in den vergangenen Monaten eine sehr krasse Verquickung der AfD und den rechtsextremen Strukturen mit der "Querdenker"-Szene gegeben. Hier versucht die AfD ganz gezielt, die Situation aufzuheizen, zu spalten und daraus politisch Profit zu schlagen.
tagesschau.de: Verdrängt die Corona-Krise den Kampf gegen Rechts, gegen Rassismus?
Klingbeil: Das müssen wir verhindern. Das Rassismusproblem ist größer geworden. Jeden Tag müssen wir alles dafür tun, dass sich eine solche Tat wie in Hanau nicht wiederholt. Wir müssen wachsam sein. Aber ich möchte, dass Politik über Empörung hinausgeht. Es ist nicht damit getan, dass wir alle am Tag eines solches Anschlags traurig sind - das gehört auch dazu, aber danach muss die politische Tat folgen. Und da haben wir einiges auf den Weg gebracht. Denn solange in Deutschland Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe Bedrohungen ausgesetzt sind, verbietet sich ein zufriedenes Zurücklehnen.
Das Interview führte Wenke Börnsen, tagesschau.de