Vorwürfe gegen Habeck und Lemke Worum es beim neuen Atomstreit geht
Haben Mitarbeiter des Bundeswirtschaftsministers 2022 Kritik eigener Experten am geplanten Atomausstieg unterdrückt? Das Ministerium verneint das und verteidigt sich. Wichtige Fragen und Antworten zur Debatte.
Wirtschaftsminister Robert Habeck und Umweltministerin Steffi Lemke (beide Grüne) haben ihre Entscheidungen rund um den deutschen Atomausstieg heute in zwei Sondersitzungen von Bundestagsausschüssen erneut verteidigt.
Beendet ist die Debatte damit zumindest für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht. Andreas Jung (CDU), Sprecher für Klimaschutz und Energie der Unionsfraktion, sagte der Nachrichtenagentur dpa: "Im Raum steht weiter die begründete Annahme: Habecks Ministerium hat das Gegenteil dessen gemacht, was der Minister öffentlich angekündigt hatte. Verdrehung von Fakten statt ergebnisoffener Prüfung." Woher kommen die Vorwürfe und worum geht es eigentlich?
Wie entfachte sich die Debatte?
Auslöser der aktuellen Kontroverse ist ein Bericht des Magazins "Cicero", wonach sowohl im Wirtschafts- als auch im Umweltministerium im Frühjahr 2022 interne Bedenken zum damals noch für den folgenden Jahreswechsel geplanten Atomausstieg unterdrückt worden sein sollen. Beide Ministerien bestreiten das.
Was steht in den Akten, über die berichtet wird?
Mitarbeiter von Habecks Ministerium argumentierten im Entwurf eines Vermerks vom 3. März 2022, unter bestimmten Umständen könne eine begrenzte Laufzeitverlängerung der verbleibenden deutschen Atomkraftwerke bis in das folgende Frühjahr sinnvoll sein. Sie rieten dazu, diese Möglichkeit weiter zu prüfen. Ein Aspekt, der in dem fraglichen Entwurf nicht diskutiert wurde, war die Frage der Sicherheit des Weiterbetriebs. Es ging hier vorrangig um Fragen der Energieversorgung. Das Papier liegt auch der Nachrichtenagentur dpa vor.
In der Leitungsebene kannte das Dokument laut Ministerium nur Staatssekretär Patrick Graichen, ein Parteifreund Habecks, der später nach Vorwürfen der Vetternwirtschaft das Amt räumen musste - den Minister hätte es damit nicht erreicht.
Wie verteidigt sich Habeck?
Nach Habecks Darstellung ist das aber kein Problem. "Mein Haus hat 2400 Mitarbeiter", sagte der Minister. Die fachliche Diskussion sei wichtig. Er selbst und sein Ministerium hätten die Frage eines möglichen Weiterbetriebs der deutschen Atomkraftwerke sehr frühzeitig von sich aus geprüft.
Für Habeck seien die Gespräche mit den Atomkraftwerksbetreibern ausschlaggebend gewesen. "Entscheidend ist, dass ich in den wirklich relevanten Runden, und das sind die Runden mit den Versorgungsbetreibern, also RWE, ENBW und E.ON, immer die richtigen Fragen stellen konnte. Und da bin ich sicher, dass die gestellt wurden."
Die Betreiber hätten damals gesagt, die vorhandenen Brennelemente seien bis Jahresende aufgebraucht. Später seien diese Angaben korrigiert worden: "Da hieß es dann, die können doch noch zwei, drei, vier, fünf Monate länger laufen. Und entsprechend wurde dann auch noch einmal die Laufzeit verlängert."
Das Wirtschaftsministerium sagt zudem, das Papier sei eingeflossen in einen später veröffentlichten Prüfvermerk der Ministerien für Wirtschaft und Umwelt, in dem diese sich gegen eine Laufzeitverlängerung aussprachen - unter Verweis auf die "sehr hohen wirtschaftlichen Kosten, verfassungsrechtlichen und sicherheitstechnischen Risiken", wie es in einer Pressemitteilung hieß.
Was sagt Lemke?
Auch Umweltministerin Lemke weist die Vorwürfe zurück. Sie sagte am Rande einer Sitzung des Bundestags-Umweltausschusses, auch ihr Haus könne alle Vorgänge in dem Zusammenhang "transparent und nachvollziehbar" darstellen. Die Bewertungen und Einschätzungen hätten sich "zu jeder Zeit an der nuklearen Sicherheit unseres Landes orientiert", betonte die Grünen-Politikerin. Das Vorgehen sei stets verantwortungsvoll gewesen.
Woher kommt das Papier?
Ein "Cicero"-Journalist erstritt die Herausgabe der Akten vor Gericht und hat dem Magazin zufolge am Ende "zwei gut gefüllte Aktenordner" erhalten. Bis dahin hatte Habecks Bundeswirtschaftsministerium nur einen Teil der geforderten Dokumente übergeben und dies mit der Vertraulichkeit der Beratungen begründet, wie im Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts aus dem Januar dieses Jahres nachzulesen ist.
"Eine nachträgliche Herausgabe von vertraulich übermittelten Informationen hätte zur Folge, dass künftig ein unbefangener Meinungsaustausch nicht mehr möglich wäre", schreibt das Gericht über die Argumentation des Ministeriums. Zudem werde die Rolle der Kernkraft medial und politisch diskutiert. Die Richter überzeugte das nicht. Das Ministerium konnte aus ihrer Sicht nicht begründen, wieso die Veröffentlichung eine künftige Meinungsbildung innerhalb der Bundesregierung beeinträchtigen würde.
Wie lief die Debatte damals?
Auslöser für die neuerliche Debatte seinerzeit war der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und in der Folge eine dramatische Verschlechterung der Beziehungen auch zwischen Deutschland und Russland. Russland war damals Deutschlands wichtigster Gaslieferant. Die Frage, was das für die Energiesicherheit hierzulande bedeuten würde, stand also im Raum. Ab September floss dann praktisch kein russisches Gas mehr nach Deutschland.
Das Wirtschaftsministerium argumentierte noch im Sommer, dass Deutschland im Falle einer Gasknappheit ein Problem mit der Bereitstellung von Wärme hätte - und nicht von Strom, den Atomkraftwerke liefern würden. FDP-Chef Christian Lindner und Parteikollegen hielten dagegen: Selbst ein geringer Beitrag zur Energiesicherheit sei relevant.
Beliebt war der Atomausstieg im Frühjahr 2022 nicht: Im ARD-Deutschlandtrend vom April 2023 bewerteten 59 Prozent die Entscheidung für den Atomausstieg als falsch.
Wie lief der Streit in der Ampel?
Die Grünen, für die Anti-Atomkraft-Proteste früherer Jahre praktisch zum Gründungsmythos gehören, sperrten sich lange gegen jeglichen Weiterbetrieb. Im Oktober schließlich stellte sich ein Parteitag hinter Vorschläge Habecks, zwei der letzten drei deutschen Atomkraftwerke über den Jahreswechsel hinaus in einer Reserve zu halten und bei Bedarf kurzfristig wieder zur Stromerzeugung zu nutzen.
Doch erst ein Machtwort von Kanzler Olaf Scholz (SPD) zwei Tage später für einen befristeten Weiterbetrieb bis Mitte April 2023 beendete den Streit.
Wer hat das Atom-Aus beschlossen?
So sehr der Atomausstieg den Grünen am Herzen liegt - den Beschluss dafür fasste eine schwarz-gelbe Bundesregierung unter der Führung von Angela Merkel (CDU) nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 - nachdem sie kurz zuvor den Atomkonsens der Rot-Grünen Vorgängerregierung zurückgenommen hatte. Im Jahr 2022 waren noch drei Meiler am Netz, Isar 2 in Bayern, Neckarwestheim in Baden-Württemberg und das AKW Emsland in Niedersachsen. Ursprünglich hätten sie zum Jahreswechsel 2022/23 vom Netz gehen sollen - dies geschah dann erst einige Monate später, vor rund einem Jahr am 15. April.
Wie entwickeln sich die Preise?
Laut dem Vergleichsportal Verivox sinken mit den Großhandelspreisen für Strom auch die Verbraucherpreise wieder. Der durchschnittliche Preis pro Kilowattstunde liegt demnach mit 37,37 Cent unter den Werten von 2023 (41,44 Cent je Kilowattstunde) und 2022 (43,02 Cent je Kilowattstunde).
In einer früheren Version hieß es, dass die Neukundenpreise für Strom laut Verivox im Jahresvergleich um 25 Prozent gesunken seien und 24,7 Cent je Kilowattstunde wieder auf Vorkrisen-Niveau lägen. Zu den Neukundenpreisen gibt es jedoch regional sehr unterschiedliche Angaben und in den Auswertungen der Daten verschiedene Gewichtungen. Um Missverständnisse zu vermeiden, haben wir uns entschieden, die entsprechende Passage zu entfernen und nur den durchschnittlichen Strompreis im Jahresvergleich darzustellen.
Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen