Bodo Ramelow und Georg Maier

Rot-Rot-Grün in Thüringen Vier Jahre regieren ohne Mehrheit

Stand: 28.08.2024 15:17 Uhr

Die Minderheitsregierung in Thüringen hat wider Erwarten eine ganze Legislaturperiode gehalten. Ihre Bilanz kann sich trotz aller Differenzen sehen lassen. Ein Modell für die Zukunft sieht darin aber kaum jemand.

Es ist doch vertrackt. Da zieht die Thüringer Politik etwas durch, was vorher noch niemand in der Bundesrepublik geschafft hat - und trotzdem sind am Ende des Tages alle unzufrieden.

Eine Minderheitsregierung, die eine ganze Wahlperiode gehalten hat? Bitte nicht noch einmal, sagen die Beteiligten unisono: "Kann ich nicht empfehlen" (Bodo Ramelow, Regierungschef, Linke), "eine Minderheitsregierung ist die schlechteste aller Möglichkeiten" (Andreas Bühl, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Landtagsfraktion), die rot-rot-grüne Minderheitskoalition sei tot, befindet Vize-Ministerpräsident- und SPD-Chef Georg Maier. Er weine ihr keine Träne nach.

Politik als Kunst des Möglichen

Dabei fällt die Bilanz dieser bundesweiten Premiere gar nicht so schlecht aus. Wenn Politik die Kunst des Möglichen ist und der Kompromiss ihr Wesenskern, dann waren die Protagonisten der Minderheitsregierung von Rot-Rot-Grün bis CDU sogar ziemlich erfolgreich. Der Landtag hat regelmäßig mit Mehrheit einen Landeshaushalt beschlossen; dazu ungefähr, nach Expertenmeinung, so viele Gesetze wie in "normalen" Wahlperioden mit Mehrheitsregierung.

Dafür, dass die CDU der Regierung bei den wichtigsten Entscheidungen keine Steine in den Weg legte, konnte sie als Opposition eigene Vorhaben durchsetzen. "Auf der Sachebene haben wir über die Parteigrenzen hinweg gut zusammen gearbeitet", sagt Finanzministerin Heike Taubert (SPD).

Also woher kommt der Überdruss? Hängt es vielleicht damit zusammen, dass die von einer "konstruktiven Opposition" gestützte Minderheitsregierung eigentlich nur für eine Übergangszeit gedacht war? Aber unter dem Zwang der äußeren Krisen über ihr Verfallsdatum weiterlebte?

Wir erinnern uns an das Frühjahr 2020: Überraschungs-Ministerpräsident Thomas Kemmerich (FDP) war zurückgetreten. Die CDU konnte sich erfolgreich gegen sofortige Landtags-Neuwahlen wehren. Aus China näherte sich eine seltsame, gefährliche Krankheit. Die Regierungskoalition, der vier Stimmen im Landtag zur Mehrheit fehlten, und die CDU-Spitze beschlossen, für eine klar definierte Übergangszeit zusammen zu arbeiten.

"Die Strukturen mussten funktionieren"

"Drei Wochen später waren wir schon im ersten Lockdown", erinnert sich Andreas Bühl von der CDU. Klassische Opposition hätte Stillstand bedeutet, so der CDU-Fraktionsmanager, der an allen wichtigen Verhandlungen beteiligt war. "Die Strukturen mussten doch funktionieren", etwa zwischen Land und Kommunen.

Der sogenannte Stabilitätsmechanismus sah vor, dass sich die linksgeführte rot-rot-grüne Regierung und die CDU-Opposition gemeinsam um den nächsten Haushalt bemühen und darauf verzichten, im Landtag Mehrheiten gegen eine der vier unterzeichnenden Parteien zu organisieren. Und die CDU machte die Wiederwahl des Linken Bodo Ramelow zum Thüringer Ministerpräsidenten möglich.

Die Vereinbarung sollte bis zur Verabschiedung des Landeshaushalts gelten und in Neuwahlen im April 2021 münden. Kritiker in der Bundes-CDU verwiesen auf den für die Union geltenden Unvereinbarkeitsbeschluss, der eine engere Zusammenarbeit mit den Linken ausschließt. Dem hielten die Thüringer Christdemokraten entgegen: "Die Stabilitätsvereinbarung bedeutet keine Koalition, keine Tolerierung und keine Duldung von Rot-Rot-Grün, sondern eine zeitlich eng begrenzte, projektorientierte Zusammenarbeit zum Wohle Thüringens." Mit Neuwahlen im April 2021.

Und dann: Corona

Und dann kam Corona mit Macht und der angesetzte Neuwahl-Termin wurde verschoben - statt im April sollten die Wähler in Thüringen jetzt im September 2021, am Tag der Bundestagswahl, an die Urnen gerufen werden. Doch je weiter die turbulenten Tage aus dem Frühjahr 2020 mit ihren Neuwahl-Versprechen im Dunkel der Vor-Corona-Zeit versanken, desto stärker wurden die Bedenken - oder waren es Beharrungstendenzen?

Zunächst entdeckten einige CDU-Abgeordnete persönliche Vorbehalte gegen eine Neuwahl und lösten damit Skrupel bei zwei Parlamentariern der Linken aus. Aus Angst, die für die Landtagsselbstauflösung nötige Zweidrittelmehrheit ohne Stimmen der AfD nicht mehr zu schaffen, sagte die Regierungskoalition die Abstimmung kurzerhand ab.

Ein Übergang, der nicht enden will

Das nur für den Übergang gedachte fragile Konstrukt aus Minderheitsregierung und konstruktiver Opposition wurde zum Dauerzustand. Und der Ton rauer. Schon das Treffen im Landtag, auf dem CDU und Rot-Rot-Grün eine mündliche Anschluss-Vereinbarung zum Stabilitätspakt präsentierten, glich klimatisch eher einem Scheidungstermin samt Rosenkrieg statt dem Beginn einer neuen Ära der Zusammenarbeit.

Die Vereinbarung, auf keinen Fall Mehrheiten mit der extremistischen AfD gegen die Regierungskoalition zu bilden, gab es jetzt nicht mehr. Matthias Hey, langjähriger Fraktionschef der SPD im Landtag, beobachtete, "wie das Verhältnis unter Demokraten zunächst in Zeitlupe, dann immer schneller zerrüttet wurde".

Auch die Verhandlungen unter den Parteien wurden immer zäher. "Stundenlang haben wir über Mini-Passagen etwa im Schulgesetz hin- und her verhandelt", erinnert sich der CDU-Mann Bühl. "Mario Voigt wollte plötzlich nur noch mit dem Ministerpräsidenten persönlich über Haushaltsfragen verhandeln. Als ob wir Fraktionschefs auf einmal nicht mehr gut genug wären", erzählt der Sozialdemokrat Hey. Wochenlang habe der CDU-Chef damit die Haushaltsverhandlungen blockiert. "Das wurde mehr und mehr zur Profilneurose." Und Linken-Fraktionschef Steffen Dittes ergänzt: "Mario Voigt hat nur noch in Pressemitteilungsphrasen geredet."

Die CDU hat es auch nicht leicht

Aber CDU-Chef Voigt hatte es auch nicht leicht. In seiner von der Landtagswahl gebeutelten Partei verblasste das große Gefühl der Erleichterung, sofortige Neuwahlen und weitere Verluste verhindert zu haben. Von Tag zu Tag. Stattdessen wuchs der Unmut, an die ungeliebte politische Konkurrenz gebunden zu sein - waren die Zugeständnisse beim Haushalt oder anderen Gesetzesvorhaben den Verdruss in dieser zunehmend als toxisch empfunden Beziehung wert?

Dazu kam das Dauerfeuer von der AfD, die die CDU als "nützliche Idioten" im Dienste der linken Landesregierung oder gleich alle anderen Parteien im Landtag als "Nationale Front" à la DDR beschimpften. In der CDU-Landtagsfraktion brachen alte Konfliktlinien wieder auf. Abstimmungen im Landtag gingen schief, weil Mehrheiten nicht zustande kamen, die CDU-Chef Voigt Rot-Rot-Grün zuvor signalisiert hatte.

Bei geheimen Personenwahlen fielen auf einmal Kandidaten von Rot-Rot-Grün durch, die Christdemokraten Jahre früher noch fröhlich mitgewählt hatten. Einen Landeshaushalt ließ die CDU nur passieren, weil die rot-rot-grüne Minderheitskoalition zuvor - unter maximalen Schmerzen - einem Windkraftverbot im Wald zugestimmt hatte. Redner von Rot-Rot-Grün nannten das Erpressung.

Und die CDU ließ zu, dass die AfD ihr zu Mehrheiten gegen die Regierungskoalition verhalf - etwa bei der von CDU und AfD beschlossenen Senkung der Grunderwerbsteuer. CDU-Chef Voigt nannte das die erste Steuersenkung in der Geschichte des Landes Thüringen und verneinte Absprachen mit der AfD; Politiker von Rot-Rot-Grün prangerten ein gefährliches Gemeinmachen mit Extremisten an, denen die CDU Einfluss auf die Landesgesetzgebung ermögliche. In vollem Wissen.

"Eine konstruktive Opposition bleibt auch Mist"

"Also ich wollte keinen Tag mit Mario tauschen." Bei der Landtagsabgeordneten der Grünen Madeleine Henfling ist durchaus Verständnis für die schwierige Lage des CDU-Fraktionschefs zu erkennen. Die beiden duzen sich auch immer noch.

Aber das persönliche Verhältnis habe in der letzten Phase der Minderheitsregierung schon gelitten, sagt Henfling, die jetzt im Landtagswahlkampf als grüne Spitzenkandidatin gegen den CDU-Spitzenkandidaten Voigt antritt. "Mario hätte uns einfach öfter ehrlich sagen müssen, was mit der CDU geht und was eben nicht geht."

Andreas Bühl von der CDU hält dagegen, dass die Landesregierung vieles, was auf CDU-Wunsch vom Landtag beschlossen worden sei, später im Gesetzesvollzug ausgebremst habe. Eben weil die CDU als Opposition kaum Zugriff auf die Umsetzung von Förderrichtlinien oder dem heiß ersehnten Kinderbauland-Bonus hatte. Das sei frustrierend gewesen. Die konstruktive Opposition war notwendig, aber "mit wehenden Fahnen war bei uns keiner unterwegs".

Gut, dass die Zeit jetzt um ist, sagt Bühl. Also er könne da nur Franz Müntefering, einen für seine ewigen Weisheiten bekannten Sozialdemokraten, abwandeln: "Opposition ist Mist. Und eine konstruktive Opposition bleibt auch Mist."

In einer früheren Version dieses Textes hieß es, Rot-Rot-Grün in Thüringen sei bundesweit die erste Minderheitsregierung gewesen, die eine ganze Legislaturperiode gehalten hat. Das stimmt nicht: In Sachsen-Anhalt gab es zwischen 1994 bis 2002 zwei Minderheitsregierungen, die beide jeweils eine komplette Wahlperiode hielten.

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