Infektionsschutzgesetz Was bringt die Gesetzesänderung?
Hier ein bisschen Lockdown, da ein bisschen lockern - die Corona-Regeln glichen bislang einem Flickenteppich. Das soll einheitlicher werden: mit einem neuen Infektionsschutzgesetz. Was ist geplant, wie lautet die Kritik?
Schluss mit dem unübersichtlichen Flickenteppich, endlich klar nachvollziehbare Corona-Regeln in ganz Deutschland: Die Bundesregierung soll künftig einen verbindlichen Rahmen für Lockdown oder Lockern vorgeben. Im Kampf gegen die Pandemie ist das ein Paradigmenwechsel. Die Länder geben damit ein Stück weit das Heft des Handelns aus der Hand.
Doch nach 13 Monaten Pandemie, unzähligen frustrierenden Bund-Länder-Gesprächen ohne klaren Kurs, aber viel Klein-Klein und noch mehr regionalen Sonderwegen, befindet sich Deutschland mitten in der dritten Welle. Virologen und Intensivmediziner warnen seit Wochen, und bleiben doch vielerorts ungehört.
Das Kabinett hat deshalb Ergänzungen des Infektionsschutzgesetzes beschlossen - kurz die "Bundesnotbremse". Diese soll der Bundesregierung vorübergehend mehr Durchgriffsrechte verschaffen, wenn regional die Inzidenzwerte hochschnellen. Der Bundestag muss zustimmen, auch der Bundesrat kommt noch zum Zug.
Eigentlich hatten sich Bund und Länder schon längst auf einen Mechanismus geeinigt, der vorgibt, was bei einer verschärften Pandemie-Lage zu tun ist. Diese Notbremse wird in den Bundesländern jedoch sehr freihändig interpretiert. Ein geändertes Infektionsschutzgesetz soll diese Praxis nun beenden - und die Länder gesetzlich verpflichten, die Maßnahmen bei hohen Inzidenzen auch umzusetzen. Was die Bundesregierung plant und wo das Vorhaben schon wieder verwässert werden könnte: ein Überblick.
Einheitliche Corona-Regeln - wie geht das?
Würden die 16 Bundesländer die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) mit der Kanzlerin konsequent umsetzen, wären die Corona-Regeln in Deutschland ziemlich einheitlich. Denn die Länder sind es, die die Maßnahmen - von Kontaktbeschränkungen bis Schulen- und Geschäftsschließungen - per Rechtsverordnung in Kraft setzen müssen. Dabei wichen sie aber immer wieder von den Grundvereinbarungen ab, Folge ist ein Flickenteppich an Corona-Regeln. Für normale Menschen kaum durchschaubar. Und schlimmer noch: Weil sich die Bund-Länder-Runde immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen "Bremsern und Dränglern" einigen kann, parallel aber das Impfen und Testen lange Zeit stockte, breitet sich das Virus weiter aus, wie ein Blick auf die RKI-Zahlen und auf die Intensivstationen zeigt.
Nun soll der Bund nach dem Willen des Kabinetts mehr Kompetenzen im Kampf gegen Corona bekommen - und zwar schnell. Es geht hier also auch um die Machtverteilung zwischen Bund und Ländern. Aber auch um Verantwortung. Künftig soll die vereinbarte Notbremse bei mehr als 100 Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen verbindlich für alle Bundesländer festgeschrieben werden. Die Länder wären per Gesetz verpflichtet, sie umzusetzen, inklusive aller damit verbundenen Regeln. Daher auch der Kunstbegriff "Bundesnotbremse".
Die Bundesregierung soll den Plänen zufolge ermächtigt werden, "zur einheitlichen Festsetzung von Corona-Maßnahmen Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrats zu erlassen". Bei einer Inzidenz über 100 sollen dem Bund "dieselben Handlungsmöglichkeiten wie den Ländern" gegeben werden.
Welche Regeln soll die "Bundesnotbremse" beinhalten?
Bislang gibt es lediglich eine "Formulierungshilfe" für die Änderung des Infektionsschutzgesetzes, die die Bundesregierung den Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD vorgelegt hat. Demnach soll die "bundesweit verbindliche Notbremse" in Kreisen und kreisfreien Städten ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern gezogen werden. Wird diese Schwelle an drei aufeinander folgenden Tagen überschritten, greifen ab dem übernächsten Tag schärfere Maßnahmen. Umgekehrt wird die Notbremse wieder außer Kraft gesetzt, wenn die Inzidenz an drei Tagen unter 100 sinkt.
Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren
Zu den Notbremse-Regelungen gehören unter anderem strikte Kontaktbeschränkungen und auch Ausgangssperren. Die Angehörigen eines Haushalts dürfen sich dann nur noch mit einem weiteren Menschen treffen. Maximal dürfen fünf Menschen zusammenkommen, Kinder unter 14 Jahren werden dabei nicht mitgerechnet. In betroffenen Kreisen und kreisfreien Städten sollen zudem nächtliche Ausgangssperren von 21 bis 5 Uhr gelten. Ausnahmen sind nur in "begründeten" Fällen möglich. Als Beispiele dafür werden genannt medizinische Notfälle, berufliche Gründe oder auch die Versorgung von Tieren.
Geschäfte müssen schließen - mit Ausnahmen
Ladengeschäfte und "Märkte mit Kundenverkehr für Handels-, Dienstleistungs- und Handwerksangebote" wie zum Beispiel Baumärkte dürften in den Corona-Hotspots nicht mehr öffnen. Der Lebensmittelhandel ebenso wie Getränkemärkte, Reformhäuser, Apotheken, Drogerien und Tankstellen blieben von den Maßnahmen ausgenommen.
Geschlossene Schwimmbäder, Zoos, Museen und Theater
Freizeiteinrichtungen wie Schwimmbäder oder auch Clubs dürfen nicht öffnen. Auch Zoos, Theater, Kinos und Museen müssen schließen.
Nur Take-Away in Restaurants - kein Tourismus
Restaurants und Betriebskantinen dürfen dann keine Gäste mehr empfangen. Die "Abgabe und Lieferung von mitnahmefähigen Speisen und Getränken" ist aber erlaubt. Urlaubsreisen sind nicht möglich: "Übernachtungsangebote zu touristischen Zwecken sind untersagt", heißt es in der "Formulierungshilfe" der Bundesregierung.
Einschränkungen im Sport
Grundsätzlich wird Sport untersagt. Ausgenommen ist laut des Vorschlags lediglich "die Ausübung von Individualsportarten, die allein, zu zweit oder mit den Angehörigen des eigenen Hausstands" ausgeübt werden. Profisport darf stattfinden, allerdings weiterhin ohne Zuschauer.
Viel Homeoffice
Möglichst viele Menschen sollen zu Hause arbeiten. Der Arbeitgeber muss dies dem Vorschlag der Regierung zufolge ermöglichen, "wenn keine zwingenden betriebsbedingten Gründe entgegenstehen".
Einschränkungen in Kitas und Schulen
Hier greift der Bund bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 noch nicht ein. Präsenzunterricht bleibt möglich, Schülerinnen und Schüler sollen zweimal in der Woche auf eine Corona-Infektion getestet werden. Dies ist auch als Testpflicht im Gespräch. Geschlossen werden sollen Schulen, wenn die Inzidenz 200 übersteigt. Möglich ist dann nur noch eine Notbetreuung. Ausnahmen kann es für Abschlussklassen geben.
Wie schnell soll die "Bundesnotbremse" kommen?
Wenn es nach der Bundesregierung und auch vielen Ländern geht: so schnell wie möglich. Nach dem Ja im Kabinett soll das Gesetz im Eilverfahren Bundestag und Bundesrat passieren. Dafür jedoch braucht es auch die Bundestagsopposition, weil das beschleunigte Verfahren mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden müsste. Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus appellierte daher an die Opposition: "Lasst uns das diese Woche zum Ende bringen." Wie dann im Einzelnen abgestimmt werde, sei eine andere Frage. "Aber bitte keine Verfahrensverzögerungen."
Der Bundestag tagt diese Woche regulär, der Bundesrat erst wieder am 7. Mai. Hier wäre also eine Sondersitzung nötig, wenn man nicht so lange warten will.
Berlins Regierender Bürgermeister Müller rechnet damit, dass der Gesetzgebungsprozess bis zu zwei Wochen dauern könnte. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hatte sich zuvor noch zuversichtlich geäußert, die Änderungen auch innerhalb einer Woche umsetzen zu können.
Intensivmediziner fordern Tempo. Die Lage sei jetzt schon "dramatisch", sagte Gernot Marx, der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), dem ARD-Hauptstadtstudio. Am besten solle das Gesetz schon kommende Woche in Kraft treten, "damit wir ganz schnell das Gesundheitssystem und insbesondere die Intensivstationen wieder entlasten können".
Ist die Zustimmung des Bundesrats nötig?
Laut Unions-Fraktionschef Brinkhaus braucht es nicht zwingend die Zustimmung der Länderkammer. Die Umsetzung bundesweit einheitlicher Regelungen ist demnach als sogenanntes Einspruchsgesetz gedacht. "Es ist kein Gesetz, so wie wir es vorhaben, wo der Bundesrat auch zustimmen muss", sagte der CDU-Politiker. "Also muss man auch nicht alle an Bord haben."
Anders als bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen, ist der Einfluss der Länderkammer hier geringer. Sie kann seine abweichende Meinung dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie Einspruch gegen das Gesetz einlegt. Der Einspruch kann dann aber durch den Bundestag überstimmt werden.
Der Bund dürfte jedoch ein Interesse daran haben, möglichst viele Länder mit ins Boot zu holen. Diverse Koalitionsregierungen in den Ländern erschweren dies jedoch, denn Regierungen mit FDP und/oder grüner Beteiligung könnten wegen ihrer Meinungsverschiedenheiten zur Enthaltung gezwungen sein. Etwa das schwarz-gelbe Nordrhein-Westfalen. Ministerpräsident Armin Laschet unterstützt das Gesetz, die FDP hingegen nicht. Ähnlich die Situation in Schleswig-Holstein, wo die CDU mit FDP und Grünen zusammen regiert. Die Ampel-Koalition in Rheinland-Pfalz hat noch kein Abstimmungsverhalten festgelegt. CSU-Chef Markus Söder versprach im Bericht aus Berlin zwar die volle Unterstützung seines Landes zu dem Gesetz, doch sein Koalitionspartner, die Freien Wähler, machen dagegen Front und könnten auf Enthaltung im Bundesrat pochen.
Was sind die größten Kritikpunkte?
Im Grundsatz gibt es eine breite Zustimmung für das Vorhaben, in der Pandemie-Bekämpfung mehr Kompetenzen auf den Bund zu verlagern. Dann jedoch folgt das große Aber. Kritik an einzelnen Maßnahmen kommt aus einigen Ländern, der Opposition, den Kommunen und Landkreisen. Hauptkritikpunkte: die alleinige Orientierung an Inzidenzwerten. Und vor allem: die geplante bundesweite Ausgangssperre. Mit Ausgangsbeschränkungen will die Politik verhindern, dass sich Menschen zeitweise überhaupt treffen. Führende Aerosolforscher bezweifeln jedoch, dass die Maßnahme viel bringt. Die FDP sieht das ähnlich kritisch, sie hält die Maßnahme zudem für verfassungsmäßig fragwürdig. Ebenso die Linkspartei und der Deutsche Städte- und Gemeindebund. Kritik kam auch von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller, Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil.
In einigen Regionen gibt es bereits nächtliche Ausgangsbeschränkungen, jedoch nicht einheitlich bundesweit. In der Region Hannover wurde sie jüngst aufgehoben, nachdem das Verwaltungsgericht Eilanträgen gegen die Maßnahme stattgegeben hatte.
Gibt es Extra-Wünsche?
Ja, die SPD fordert neue Hilfsprogramme, etwa für die Gastronomie. Zusammen mit Grünen und Linken verlangt sie auch eine Testpflicht für Unternehmen. Eine entsprechend aktualisierte Arbeitsschutzverordnung von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil könnte das Kabinett neben der Novelle des Infektionsschutzgesetzes beschließen. Die Unternehmen müssten dann die Tests bezahlen. Vorgesehen ist, dass alle Mitarbeiter, die nicht im Homeoffice sind, das Recht auf einen Corona-Test pro Woche bekommen. Die Union war ursprünglich gegen die Pläne.
Was wird aus den Modellversuchen?
Sie können weiterlaufen, sofern in den Landkreisen die Inzidenz von 100 nicht überschritten wird. So stünde das Saarland-Modell wohl vor dem Aus. Am Sonntag lagen im Saarland vier von sechs Kreise über der Marke. Die landesweite Inzidenz, also die Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb der vergangenen sieben Tage, betrug 121,1. In Schleswig-Holstein hingegen liegt eine Reihe von Landkreisen relativ stabil unter 100. Deshalb darf dort seit Montag die Außengastronomie wieder öffnen. Niedersachsen verschob die kontrollierte Öffnung in Modellregionen und wartet erstmal auf die bundeseinheitlichen Regelungen im neuen Infektionsschutzgesetz.