Corona-Lage an Schulen "Stehen kurz vor dem Kontrollverlust"
Distanzunterricht, Luftfilteranlagen, Maskenpflicht - während der Pandemie mangelte es nicht an Reizthemen im Schulalltag. Nun rollt die nächste Welle auf Schüler und Lehrkräfte zu. Experten mahnen dazu, entschieden zu handeln.
Zwei Wochen ist es nun her, dass NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer die Maskenpflicht in Nordrhein-Westfalen abschaffte. Und dabei vollmundig verkündete: Angesichts der vielfältigen Schutzmaßnahmen seien Schulen keinesfalls Treiber der Pandemie, sondern eher "Bremsscheiben". Dem kann Andreas Bartsch nur bedingt zustimmen. Der Präsident des nordrhein-westfälischen Lehrerverbands schildert seine Eindrücke aus den vergangenen vierzehn Tagen: "Die Schülerinnen und Schüler scheinen lernfähiger zu sein als die Politik. Ich würde mal sagen, drei Viertel von ihnen tragen nach wie vor die Maske."
Freiwilligkeit sorgt für Streitereien
Bartsch freut sich über so viel Vernunft, erlebt aber auch zunehmend Streitereien zwischen Schülerinnen und Schülern, die freiwillig Maske tragen und denen, die darauf lieber verzichten. Nicht nur wegen des sozialen Friedens in den Klassen wünscht er sich die Maskenpflicht in NRW zurück: "Schule ist ja keine Insel oder keine Isolierstation. Schüler gehen nach Hause, in die Familien hinein, zu den Großeltern. Und das ist die große Sorge, dass hier eben dann auch das Virus übertragen wird."
Laut NRW-Bildungsministerium ist das Infektionsgeschehen an den nordrhein-westfälischen Schulen bisher unauffällig. Auf Anfrage teilt man die Ergebnisse einer Umfrage unter den Schulen mit: So seien von den fast 2,3 Millionen durchgeführten Antigen-Selbsttests insgesamt fast 2500 Testergebnisse positiv - ein Anteil von 0,11 Prozent. Auch vor diesem Hintergrund bestehe derzeit kein Anlass, die geltenden Regelungen zu hinterfragen. Gleichwohl beobachte die Landesregierung das Infektionsgeschehen weiter sehr genau.
54.000 Schüler in Quarantäne
Denn die bundesweite Lage entwickelt sich dynamisch: Die aktuellsten Zahlen der Kultusministerkonferenz zeigen für Anfang November bundesweit mehr als 23.000 infizierte Schülerinnen und Schüler sowie 1770 erkrankte Lehrkräfte. Mehr als 54.000 Schülerinnen und Schüler sowie etwas mehr als 1000 Lehrkräfte sind zudem in Quarantäne. Damit liegt der Anteil der häuslich isolierten Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte in fast allen Ländern noch unter einem Prozent.
"Das liegt aber weniger daran, dass das Infektionsgeschehen nicht hoch ist, meint Heinz-Peter Meidinger, Bartschs Bundeskollege vom Deutschen Lehrerverband. "Sondern daran, dass man sich bei den Quarantänemaßnahmen mittlerweile in vielen Bundesländern nur noch auf das Notwendigste beschränkt." So würden nur noch infizierte Schülerinnen und Schüler nach Hause geschickt - nicht aber die Klassenkameradinnen und -kameraden, die um die betroffenen Kinder herum sitzen.
Kontrollverlust in Hotspot-Regionen
Mit Blick auf die Anzahl der infizierten Schülerinnen und Schüler stünden Schulen daher inzwischen so schlecht da wie noch nie, meint Meidinger. "Ist ja auch kein Wunder, nachdem wir ja in dieser Altersgruppe die meisten Ungeimpften haben." Tatsächlich haben von den Zwölf- bis Siebzehnjährigen knapp weniger als 50 Prozent gerade mal die erste Impfung erhalten. Kinder unter zwölf werden in Deutschland bisher in der Regel noch nicht geimpft. BioNTech/Pfizer hat die U12-Impfstoffzulassung bereits beantragt, die europäische Arzneimittelbehörde will bis Weihnachten darüber entscheiden.
Doch bis Weihnachten sind es noch knapp sechs Wochen. Zeit, die laut Meidinger entscheidend sein könnte: "Mittlerweile stehen wir kurz vor einem Kontrollverlust, vor allem in den Hotspot-Regionen." Er muss es wissen: Meidingers bayerischer Heimatkreis Rottal-Inn liegt bei einer 7-Tage-Inzidenz von über 1260 - der zweithöchste Wert in der Bundesrepublik, nur knapp hinter dem Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge.
Gesundheitsämter in vielen Regionen Deutschlands seien schon jetzt überfordert und personell nicht mehr in der Lage, die vielen Meldungen der Schulen zu verarbeiten. Und das, obwohl beispielsweise Bayern die Maskenpflicht an Schulen schon wieder eingeführt hat.
Drei Szenarien für die Zukunft
Für Meidinger gibt es daher bloß drei Szenarien: Die Durchseuchung an Schulen, um so zu einer Immunisierung zu kommen, bevor ein Impfstoff zugelassen ist. Dies könne man aufgrund der unvorhersehbaren Langzeitwirkungen allerdings in keinem Fall verantworten. Das zweite Szenario wäre ein Déjà-vu: "Wir steuern wieder auf Schulschließungen zu, was wir auf keinen Fall wieder wollen." Aber schon jetzt häufen sich in den besonders stark betroffenen Regionen wieder Schulschließungen. So sind in Sachsen laut Landesregierung inzwischen wieder über 50 Schulen entweder komplett oder teilweise geschlossen.
Meidinger setzt auf eine dritte Option: An den Schulen alles zu machen, um den Gesundheitsschutz hochzuhalten. Das heißt für ihn: "Maskenpflicht, endlich mal diese Hunderte von Millionen für Raumluftfilteranlagen abrufen, sowie eng getaktete Testungen." Nötig seien weiterhin Impfangebote - auch im Umfeld von Schulen, für die Kinder und Jugendlichen, die schon geimpft werden könnten. Und welches Szenario ist am wahrscheinlichsten? "Als Pädagoge bin ich immer Optimist", sagt Meidinger, "vielleicht hat die Politik jetzt doch den Schuss gehört."