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Europawahl 2024

Walter Frankenstein
Europawahl

Appell an junge Wähler "Wir konnten es nicht verhindern. Ihr könnt es heute."

Stand: 04.06.2024 21:37 Uhr

Die Europawahl ist wichtig für die Ausrichtung der EU. In einem offenen Brief haben Holocaustüberlebende und Weltkriegszeugen nun an Erstwählerinnen und -wähler appelliert, ihre Stimme abzugeben - und die Demokratie zu stärken.

Wählen gehen, demokratisch wählen: "Das wäre mein schönstes Geburtstagsgeschenk", sagt Walter Frankenstein. Am 30. Juni wird er 100 Jahre alt. Gesendet wird seine Videobotschaft auf der Pressekonferenz, auf der ein offener Brief von Holocaustüberlebenden und Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges vorgestellt wird. Frankenstein ist einer von ihnen. Er hatte damals gemeinsam mit seiner Frau im Berliner Untergrund überlebt. Jetzt wohnt er in Schweden.

In dem offenen Brief, initiiert von der Kampagnenplattform Avaaz, appellieren sie an Erstwählerinnen und -wähler, zur Wahl zur gehen und alles in ihrer Macht stehende für die Demokratie zu tun. "Für Millionen von Euch ist die Europawahl die erste Wahl in Eurem Leben. Für viele von uns könnte es die letzte sein." So steht es in dem Brief. Auch Eva Umlauf hat unterschrieben: "Wir Überlebende wissen vielleicht mehr als andere", sagt die 81-Jährige. Sie haben erlebt, was es bedeutet, verfolgt zu werden, keinen Schutz, keine Rechte mehr zu haben. Umlauf ist Psychotherapeutin, sie stammt aus der Slowakei und lebt in München. Sie arbeitet noch immer, "so lange es geht".

Als Zweijährige gehörte sie mit ihrer Mutter zu denjenigen, die Auschwitz überlebt haben. Es war reiner Zufall, dass die Lok, mit der sie in das Vernichtungslager transportiert wurden, repariert werden musste und sie deshalb erst dann dort ankamen, als Juden nicht mehr vergast wurden, erinnert sie sich. Bis heute aber fehlen die zahlreichen Familienmitglieder, die ermordet worden sind, schmerzlich, erzählt sie.

Ruth Winkelmann und Eva Umlauf präsentieren einen offenen Brief

Ruth Winkelmann und Eva Umlauf zeigen den offenen Brief, mit dem sie für das Wählengehen und die Demokratie werben.

Versteckt in einer Gartenlaube überlebt

Umlauf sitzt gemeinsam mit der 95-jährigen Ruth Winkelmann auf dem Podium der Pressekonferenz, bei der sie den offenen Brief vorstellen. Winkelmann überlebte den Holocaust gemeinsam mit ihrer Mutter, versteckt in einer Gartenlaube im Norden Berlins. 17 Familienmitglieder, auch ihr Vater, wurden während des Nationalsozialismus ermordet. "Als der erste nicht mehr nach Hause kam, da war es klar, wir sind Menschen zweiter Klasse", berichtet sie.

Per Video wurde der Holocaustüberlebende Leon Weintraub live zugeschaltet. Er ist 98 Jahre alt und unermüdlich, wie die anderen, wenn es darum geht, die Erinnerungen wachzuhalten. Eindrücklich erzählt er, im polnischen Lodz geboren, vom Einmarsch der Deutschen nach Polen, wie die jüdische Bevölkerung ins Ghetto gepfercht und dort unmenschlich behandelt wurde. Als Heranwachsender sah er, wie die deutschen Männer einen alten Juden umringten, ihm den Bart abschnitten - so brutal, dass ein Stück Haut mit abriss.

Leon Weintraub ist live per Video auf der Zeitzeugenpressekonferenz zugeschaltet.

Leon Weintraub hält unermüdlich die Erinnerung wach und setzt sich für die Demokratie ein.

Als sie nach Auschwitz deportiert wurden, konnte Weintraub sich retten, indem er sich unauffällig einer Arbeiterkolonne anschloss, nach einer lebensgefährlichen Odyssee von Konzentrationslager zu Konzentrationslager schaffte er es schließlich bis nach Donaueschingen, das bereits befreit war. 

Engagement für Demokratie auch im hohen Alter

Alle vier Zeitzeugen engagieren sich intensiv - und ohne Rücksicht auf ihr fortgeschrittenes Alter. Ebenso wie die weiteren Unterzeichnerinnen und Unterzeichner. Sie gehen in Schulen, auf Veranstaltungen, um zu erklären, wie wichtig die Demokratie ist und dass sie die aktuellen rechtspopulistischen Strömungen für gefährlich halten.

Die ganze politische Aufklärung reiche offenbar nicht, stellt Eva Umlauf frustriert fest. Die hohe Zahl junger Menschen, die die AfD wählen, besorge sie. "Ich habe Angst vor der Zukunft. Nicht vor meiner, ich habe ja nicht mehr so viel, aber vor der Zukunft der Jüngeren." Vielleicht sollte man noch mehr in andere Schulen gehen und nicht vor allem in die Gymnasien. Da seien Lehrer und Schüler eigentlich immer ganz gut vorbereitet, überlegt Umlauf.

Manchmal ist sie fassungslos angesichts großer Ahnungslosigkeit. "Wenn ich zur Untersuchung bei Ärzten bin und die sehen meine Auschwitznummer in der Haut, dann wissen die manchmal nicht, was das ist. Einer fragte sogar mal: 'Was haben Sie sich da reingeschnitten'".

Angst um die Zukunft der Jüngeren

Walter Frankenstein wendet sich vor allem an die jungen Menschen. Wenn die sagen: "Ja, ich weiß nicht, wen ich wählen soll, also wähle ich lieber gar nicht. Das ist das Schlimmste, was man machen kann." "Wir konnten es damals nicht verhindern. Aber ihr könnt es heute", heißt es im offenen Brief. Dort wird gewarnt: Auch damals fing es nicht mit Konzentrationslagern an, die Rechten kamen auf demokratischem Weg an die Macht. "Zu viele haben sie unterschätzt", sie nicht ernst genommen, so sein Urteil.

In einem Bildschirm wird die Videobotschaft von Walter Frankenstein auf einer Pressekonferenz gezeigt.

Walter Frankenstein wendet sich an junge Menschen. Nicht zu wählen sei das Schlimmste, findet er.

In der Erinnerung von Walter Frankenstein war es 1932/1933 eine ähnliche Situation wie heute: "Eine schwache demokratische Regierung und eine Partei, die Leute sammelte, die unzufrieden waren", warnt er und fordert die Leserinnen und Leser auf, für die Demokratie zu kämpfen.

Während der Pressekonferenz war es auffallend still, als Ruth Winkelmann, Eva Umlauf, Walter Frankenstein und Leon Weintraub erzählten, was sie erlitten und wie viele Familienangehörige sie verloren haben. Und es beeindruckt, wie viel Mühen sie auf sich nehmen, weite Strecken zu fahren, lange kräftezehrende Vorträge zu halten, in ihrem hohen Alter. Um vor dem Verlust der Demokratie zu warnen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 04. Juni 2024 um 15:53 Uhr.