Bürokratie Verzweifeln am Familiennachzug
Mohammed kämpft seit Monaten darum, seine neunjährige Tochter aus Kabul nach Deutschland zu bringen. Selbst mit Hilfe klappt es nicht. Was bringt ein Aufnahmeprogramm, wenn es kaum genutzt werden kann?
Mohammed ist erst 30 Jahre alt, doch er wirkt, als hätte er schon mehrere Leben hinter sich. Still zieht er zwei Blätter aus einem Stapel zerknitterter Unterlagen heraus, die er aus seinem Rucksack geholt hat.
Das eine Foto zeigt einen schwer verletzten Mann im weißen Gewand, durch Schmutz und Blutspuren kaum zu erkennen. "Das bin ich, nachdem vor unserem Büro eine Autobombe explodiert ist", sagt er. Bis heute werde er verfolgt, weil er für eine Firma gearbeitet hat, die den Taliban die Zusammenarbeit verweigert hat. Sein Nachname wird deshalb nicht genannt.
Das andere Foto zeigt ihn mit seiner kleinen Tochter Nila, die ihren Kopf auf seine Schulter legt. Ihr Name wurde zu ihrem Schutz verändert.
Mohammed musste sie in Kabul zurücklassen, denn auf der Flucht, die er nach dem Anschlag auf seine Firma antrat, habe er ihr nicht ausreichend Sicherheit bieten können. Nun möchte er sie zu sich nach Kassel holen.
Nur 49 Menschen kommen
Für Fälle wie den von Mohammed hat die Landesregierung Hessen nach der Machtübernahme der Taliban 2021 ein Aufnahmeprogramm aufgelegt - wie auch Thüringen, Berlin und Bremen. Dafür wurde extra ein Team aus vier Sachbearbeitern und einem Juristen abgestellt.
Nach Hessen sollten 1.000 Menschen bis zum Auslaufen des Programms Ende 2023 kommen dürfen. Insgesamt wurden beim zuständigen Regierungspräsidium in Gießen 780 Anträge gestellt und 177 Anträge davon bewilligt.
591 lehnte die Behörde ab. 277 der Ablehnungen beruhen auf fehlenden Unterlagen - "erledigt wegen Unvollständigkeit" heißt das offiziell. Bisher sind nur 49 Menschen eingereist.
Komplexes Antragsverfahren, kurze Fristen
Zweieinhalb Stunden saßen Mohammed und die Flüchtlingshelferin Elisa Cardillo gemeinsam am Computer, um nur das erste Antragsformular für das Landesaufnahmeprogramm auszufüllen. Selbst für Cardillo, die soziale Arbeit studiert hat und beruflich Geflüchteten hilft, war das eine Herausforderung. "Eine Person, die selbst betroffen ist, kann das einfach gar nicht alleine schaffen", sagt sie.
Dass so viele Anträge als unvollständig abgelehnt wurden, wundert sie nicht. Die Standardfrist zum Nachreichen von Dokumenten beträgt nämlich nur drei Tage.
Um eine Meldebescheinigung und das Familienbuch aus Afghanistan zu besorgen, ist dieser Zeitraum knapp bemessen. Geklappt habe das in Mohammeds Fall nur mit viel Geld und guten Kontakten.
In Kabul dauerhaft in Gefahr
Für Mohammeds neunjährige Tochter Nila fühlt sich die Zeit wie eine Ewigkeit an. Sie sei einsam und habe keine Beschäftigung, berichtet ihr Vater. Die Taliban lassen sie nicht in die Schule gehen. Ihre Mutter starb bereits kurz nach der Geburt.
Heute lebt sie mit ihren Großeltern, Tante, Onkel und Cousine in einem 40 Quadratmeter großen Zimmer und schwebt ständig in der Gefahr, entführt zu werden. Eine Geheimpolizei suche explizit nach Menschen, mit denen Afghanen im Exil erpresst werden könnten, so Mohammed. Auch sein 75-jähriger Vater sei schon befragt worden.
Viele Hürden im Lauf des Verfahrens
Regelmäßig fragt Nila Mohammed bei ihren WhatsApp-Anrufen, wann sie sich endlich wiedersehen könnten. Er kann die Frage nicht beantworten. Zu viele unvorhergesehene Hürden hatten die Antragstellung bisher verzögert - zuletzt ein Besuch des Jugendamtes.
Dieses wird laut hessischem Sozialministerium hinzugezogen, "wenn eine dauerhafte Fürsorge und Aufnahme der Minderjährigen ggf. als nicht vollständig gesichert erscheint".
Jugendamt verzögert die Zustimmung
Obwohl Mohammed den Anforderungen entsprechend umgezogen war, musste ein Besuchstermin vereinbart werden. Jeden Tag hatte er mehrere Wochen lang Besichtigungen. Nun wohnt er in einer großen Drei-Zimmer-Wohnung. Die Kosten dafür muss er selbst tragen.
Für die Unterbringung von Verwandten im Landesaufnahmeprogramm hat die Landesregierung das grundsätzlich so vorgesehen. Um die laufenden Kosten decken zu können, arbeitet Mohammed bereits in mehreren Jobs.
Helferin Cardillo sieht das kritisch. "Die gesamte Verantwortung wird auf die Menschen abgewälzt, das ist schon absurd", sagt sie.
Fehlende Erfahrungswerte
Im Vergleich zur aktuellen Situation in Kabul wäre für seine Tochter sogar ein Zimmer im Flüchtlingsheim eine Verbesserung gewesen, sagt Mohammed inzwischen. Seine große Wohnung fühlt sich nun umso leerer an. "Die Situation ist für mich zu schwer auszuhalten, um sie zu beschreiben."
Der Antragsprozess zieht sich Monate hin. Währenddessen herrschte eine große Unwissenheit, beobachtet Flüchtlingshelferin Cardillo. "Die Behörden waren per Hotline zwar super zu erreichen", sagt sie. Doch habe niemand ihre spezifischen Fragen beantworten können. Erfahrungswerte gab es nicht.
Vorabzustimmung liegt vor
Im Januar 2024 stimmt das Regierungspräsidium Gießen der Einreise von Mohammeds Tochter schließlich zu. Seitdem wartet der Vater auf einen Termin in der deutschen Botschaft im Iran. Dort soll seine Tochter Nila ihr deutsches Visum erhalten und von ihrem Großvater in seine Obhut übergeben werden.
Doch die Wartezeiten für solche Termine sind immens. An einigen Botschaften ist die Situation besonders schwierig. So auch in Teheran, wie das Auswärtige Amt bestätigt. Der Behörde sei die belastende Situation "insbesondere im Bereich der Familienzusammenführung" aber bewusst.
Starke psychische Belastung
Mohammed macht das Warten stark zu schaffen. Seine Erwartungshaltung, seine Hoffnungen hätten sich seit dem vergangenen Sommer stark verändert, sagt Helferin Elisa Cardillo.
Der anfänglichen Energie und Motivation, seine Tochter endlich nach Deutschland zu holen, seien Stress und Resignation gewichen. "Guck mich an, Elisa, ich habe so viele graue Haare bekommen, sogar mein Bart ist schon grau", soll er ihr einmal gesagt haben.
Cardillo ist pessimistisch und befürchtet, dass die ganze Angelegenheit in den kommenden Monaten im Sand verlaufen wird.