Polizisten der Bundespolizei kontrollieren an der Grenze zu Belgien einreisende Fahrzeuge.
interview

Ausweitung der Grenzkontrollen "Eher eine symbolische Maßnahme"

Stand: 16.09.2024 13:50 Uhr

Seit heute gibt es an allen deutschen Landgrenzen Kontrollen. Wie zielführend diese sind, ist umstritten. Der Kriminologe Singelnstein sieht darin eher einen symbolischen Wert. Die derzeitige Debatte erlebt er als "überhitzt".

tagesschau24: Das Ziel der Kontrollen soll die Eindämmung illegaler Migration sein. Wie zielführend sind solche stichprobenartigen Kontrollen ihrer Einschätzung nach? 

Tobias Singelnstein: Die Maßnahme ist generell relativ umstritten, weil ohnehin nur eine relativ kleine Gruppe der Menschen, die einreist, an der Grenze zurückgewiesen werden könnte.

Wenn das Ganze jetzt noch stichprobenartig stattfinden soll, dann wird die Gruppe derjenigen, die man an der Einreise hindern könnte, also nochmal kleiner. Deshalb ist es aus meiner Sicht eher eine symbolische Maßnahme. 

Tobias Singelnstein
Zur Person

Tobias Singelnstein ist Professor für Strafrecht und Kriminologie am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität. Zuvor war er von 2017 bis 2022 Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum.

tagesschau24: Wie können stichprobenartige Kontrollen in der Praxis so erfolgen, dass die Bundespolizei möglichst neutral und unvoreingenommen vorgeht? Oder kann oder soll sie das gar nicht? 

Singelnstein: Die Bundespolizei steht generell jetzt vor einer großen Herausforderung. Polizeiarbeit ist immer Schwerpunktsetzung, die Ressourcen der Polizei sind begrenzt und das heißt, wenn an einer Stelle eine neue Aufgabe kreiert wird - wie jetzt diese Grenzkontrollen -, dann bedeutet das, dass woanders Kräfte abgezogen werden müssen. Zum Beispiel auch für Maßnahmen, die sich gegen den islamistischen Terrorismus richten, sind dann unter Umständen an anderer Stelle weniger Kräfte vorhanden. 

"Signal an alle EU-Mitgliedstaaten"

tagesschau24: Seit dem terroristischen Attentat in Solingen werden in der öffentlichen Diskussion Migration und Terrorismus stark miteinander vermischt. Es gibt unbestrittene Herausforderungen auf beiden Gebieten. Wie sinnvoll ist es, Terrorismus und Migration miteinander zu vermischen?

Singelnstein: Aus kriminologischer Sicht muss man sagen, dass das überhaupt nicht sinnvoll ist, dass es sehr wenig miteinander zu tun hat. Wir haben hier einen einzelnen Attentäter, das sind individuelle Personen, die man sich von ihrer Geschichte, ihren sozialen Hintergründen her angucken muss, warum und wie sie sich radikalisiert haben.

Jetzt Maßnahmen zu fahren, die sich gegen eine sehr große Gruppen von Menschen richten, nämlich Migrantinnen und Migranten, hilft in dem Feld eigentlich nicht weiter.

"Sehr unterschiedliche Interessen", Tina Hassel, ARD Brüssel, zzt. Straßburg, zu EU-Staaten zur Ausweitung der Grenzkontrollen

tagesschau24, 16.09.2024 18:00 Uhr

tagesschau24: Solche Grenzkontrollen sind auf sechs Monate begrenzt - konform mit den Bestimmungen des Schengen-Abkommens. Wären überhaupt längerfristige Grenzkontrollen machbar?

Singelnstein: Es ist schon sehr umstritten, inwiefern diese Kontrollen beziehungsweise die Maßnahmen, die dann im Rahmen dessen erfolgen, europarechtlich zulässig sind. Aber insgesamt muss man sich die Frage stellen, was für ein Signal Deutschland jetzt in die EU aussendet, wenn sie sich aus diesen europarechtlichen Regelungen, diesem europäischen Vorgehen ein Stück weit verabschiedet und einen eigenen Kurs fährt. Weil das natürlich ein Signal ist an alle anderen Mitgliedstaaten, dass sie unter Umständen auch ihren eigenen Kurs fahren. 

"Maßnahmen gegen Terrorismus statt gegen Migration"

tagesschau24: Was wären denn Ihrer Ansicht nach zielführende Maßnahmen, mit denen die irreguläre Migration besser bewältigt werden könnte?

Singelnstein: Zunächst ist Migration ja eine Frage der Ursachen. Das heißt, man muss sich angucken: Wie kommt es überhaupt dazu, dass Menschen aus ihren Herkunftsländern flüchten? Das sind die Fragen, die wir uns, glaube ich, eigentlich stellen müssen. Und zweitens muss man sehen, dass Migration eine europäische Frage ist und keine Frage, die Deutschland alleine für sich regeln oder lösen kann.

Ich erlebe die gegenwärtige Diskussion sehr aufgeheizt, sehr überhitzt. Auch gemessen an den Herausforderungen, die wir jetzt gerade im Bereich der Migration haben und die wir in der Vergangenheit schon hatten, ist mir nicht ganz ersichtlich, warum jetzt solche Maßnahmen gefahren werden, anstatt nach diesem schrecklichen Anschlag erstmal innezuhalten, zu gucken, was ist eigentlich genau passiert, die Lage zu analysieren und dann Maßnahmen gegen Terrorismus statt gegen Migration zu fahren. 

Das Gespräch führte Ralph Baudach für tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Version redigiert und gekürzt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 16. September 2024 um 11:00 Uhr.