Mitglieder der Ampel-Koalition
Analyse

Zeitenwende bei den Ampelparteien Wenn die Grundsätze schwinden

Stand: 02.08.2022 15:35 Uhr

Die SPD will von ihrer früheren Russlandpolitik nicht mehr viel wissen. Die Grünen entdecken Waffen und Kohlestrom. Und die FDP gerät bei der Schuldenbremse immer mehr in Bedrängnis. Wie die Ampel-Parteien mit ihren Grundsätzen ringen.

Von Raja Kraus, ARD-Hauptstadtstudio

Die Ampelregierung hat ein Problem: Sie wird getrieben von den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine. "Die neue Regierung wollte mit einem Programm anfangen, das sie jetzt gar nicht durchführen kann", sagt der Politikwissenschaftler und emeritierte Hochschullehrer der Freien Universität Berlin, Nils Diederich. Viele Positionen aus dem ohnehin nicht ganz einfachen Dreier-Bündnis müssen also noch einmal neu verhandelt werden.

Lars Klingbeil

SPD-Chef Lars Klingbeil - die Russland-Politik der Partei hat sich verändert

Die SPD - neue Russland-Politik und Waffenlieferungen

Von einer "Zeitenwende" hat Olaf Scholz gesprochen und damit die jahrelange Russland-Politik der Sozialdemokraten in Frage gestellt. Diederich, der selbst SPD-Mitglied ist, sagt: "Das Handeln Putins hat eben tatsächlich dort die Situation völlig verändert." Weg von der russlandfreundlichen Politik, hin zu Waffenlieferungen.

Die SPD vollziehe einen Wandel - nur eben etwas leiser als andere Parteien. Die Sozialdemokraten wüssten sich aber auf eine veränderte Situation einzustellen. Und Diederich glaubt sogar, dass die Kanzler-Partei irgendwann von dieser Haltung profitieren könnte. Dann nämlich, wenn sich die Wirtschaftslage in Deutschland stabilisiert und die Wähler einen zurückhaltenderen Politikstil goutieren könnten: "Die Zurückhaltung des Kanzlers könnte sich mittelfristig als eine sehr weise Position zeigen."

Die Zurückhaltung der SPD könnte aber auch an der Ampel-Konstellation liegen. Da sich Grüne und SPD inhaltlich näher sind, müsse die SPD als großer Koalitionspartner darauf achten, dass die FDP nicht zu kurz kommt: "Wenn die FDP nicht wahrgenommen wird und in der Wählergunst sinkt, besteht für Scholz die Gefahr, dass die FDP die Koalition verlässt", schätzt Eric Linhart, Professor für Politische Systeme an der Technischen Universität Chemnitz, die Situation ein. So komme die SPD auch in eine Vermittlerrolle.

Trotzdem muss auch die SPD weiter ihre eigenen Themen setzen. Das versucht sie momentan vor allem bei der Sozialpolitik, Stichwort Bürgergeld. Nur könne sie bei der Umsetzung weniger forsch auftreten als die kleinen Koalitionspartner: "Denn ihre Aufgabe als Kanzlerpartei ist es auch, die Koalition zusammenzuhalten", so Linhart.

Robert Habeck

Vizekanzler Robert Habeck - die Grünen fallen mit ihrem Pragmatismus auf.

Die Grünen - für Kohlestrom und Atomkraft?

Vor allem die Grünen fallen mit ihrem Pragmatismus und der Abkehr von alten Grundsätzen auf. "Die Ukraine braucht jetzt schwere Waffen" - ein Satz von Außenministerin Annalena Baerbock, der noch vor einem Jahr undenkbar gewesen wäre. Heute dagegen scheint bei den Grünen ziemlich vieles denkbar: Kohlestrom, vielleicht sogar doch noch etwas länger Atomkraft?

Man sehe gerade die Wende der Grünen von einer grundsätzlich idealistisch-fundamentalistisch eingestellten Bewegung hin zu einer praktisch orientierten Partei, so Politikwissenschaftler Diederich. Der Pragmatismus eines Robert Habeck - schon vor der Regierungsverantwortung und dem Krieg in der Ukraine kam das bei der neugewonnenen Wählerschaft an, sagt Parteienforscher Linhart. Seit einigen Jahren zeigten sich die Grünen pragmatischer und offener, zum Beispiel mit Blick auf schwarz-grüne Bündnisse: "Die Grünen haben mit einem gewissen Pragmatismus Wahlerfolge gefeiert, von daher haben sie einen Anreiz, diesen Weg weiterzugehen."

Linhart hält auch die von den Grünen geforderten und unterstützen Waffenlieferungen für die Ukraine aus heutiger Sicht für eine nicht mehr allzu große Abkehr von alten Grundsätzen. Er erinnert an die Auslandseinsätze der Bundeswehr unter dem damaligen Grünen-Außenminister Joschka Fischer. Ein aus Linharts Sicht wirklich einschneidender und schwieriger Wandel für die Partei wäre dagegen der Ausstieg vom Atomausstieg. Hier sei der Kern der Grünen betroffen: "Hier eine Abkehr von Grundsätzen zu vollziehen, das würde für die Partei extrem schwierig werden."

Christian Lindner

Finanzminister Christian Lindner - die Partei hält an der Schuldenbremse fest.

Die FDP - kippt das Tempolimit, hält die Schuldenbremse?

Während die Grünen durch ihr pragmatisches und flexibles Handeln auffallen, scheint für die FDP das Gegenteil zu gelten. Beispiel Tempolimit: Noch immer hält die Partei daran fest. Finanzminister Christian Lindner betont immer wieder, dass ein Tempolimit nicht nötig sei. Die steigenden Spritpreise sorgten ohnehin schon dafür, dass die Menschen ihr Verhalten also ihre Fahrweise änderten.

Der Berliner Parteienforscher Diederich kann sich dagegen schon vorstellen, dass die FDP das Tempolimit doch noch fallen lässt. Und auch bei der Schuldenbremse, an der Lindner festhält, gebe es - wie schon beim Sondervermögen für die Rüstung - Möglichkeiten, diese gesichtswahrend zu umgehen. "Da wird auch Herr Lindner geschickt genug sein, um entsprechende Angebote zu machen", ist sich Diederich sicher.

Der Politikwissenschaftler Linhart sieht die FDP in der Ampel in einem Dilemma: "Sie kann sich nicht einfach der rot-grünen Position anschließen, insbesondere nicht, wenn sie damit im Widerspruch zu ihrem ursprünglichem Wahlprogramm stehen würde."

Denn die FDP müsse sichtbar bleiben, was als kleinste Regierungspartei und als einzige, die eher rechts der Mitte steht, nicht einfach sei. Und für das Verhalten in einer Ampel auf Bundesebene gibt es bei der FDP schlicht noch keine Erfahrungswerte.

Es wäre also ein Risiko, Stimmen in der Stammwählerschaft zu verlieren. "Und die Frage ist, ob sie umgekehrt Wähler aus anderen Schichten dazugewinnen würde mit einem pragmatischen Kurs", sagt Linhart. Denn was bei der Wählerschaft der Grünen gut ankommt, wird bei der Wählerschaft der FDP möglicherweise abgestraft.

Raja Kraus, ARD Berlin, 02.08.2022 18:29 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Bayern 2 am 01. August 2022 um 12:05 Uhr.