Antisemitismus in Deutschland "Keiner wird als Antisemit geboren"
Jüdinnen und Juden lebten derzeit in großer Sorge und Angst, sagt Josef Schuster vom Zentralrat der Juden im Interview mit tagesschau.de. Doch dafür nur den bei Straßendemos spürbaren Antisemitismus verantwortlich zu machen, greife zu kurz.
tagesschau.de: Wir gedenken jedes Jahr der Pogromnacht von 1938 am 9. November - ist der Tag dieses Jahr anders für Sie?
Josef Schuster: In Bezug auf 1938 ist es ein halbrundes Jubiläum mit 85 Jahren. Aber klar ist, dass der 7. Oktober 2023 alles anders gemacht hat. Man kann natürlich fragen, was der Angriff der Hamas auf Israel mit Deutschland zu tun hat. Die Folge dieses Pogroms in Israel aber ist, dass ich auf deutschen Straßen seitdem Demonstrationen sehe, bei denen antisemitische, judenfeindliche Äußerungen fallen. Und wenn wir erlebt haben, dass ausgerechnet auf die Synagoge ein Anschlag mit einem Molotow-Cocktail verübt wurde, in der wir heute das Gedenken gefeiert haben - dann muss man sagen: Es gibt Parallelen, wenn auch mit ganz unterschiedlichen Ursachen.
Josef Schuster ist seit November 2014 Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Zugleich ist er Vizepräsident des World Jewish Congress. Er engagiert sich seit vielen Jahren für die jüdische Gemeinschaft, seit 1998 als Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg und Unterfranken. Von 1988 bis 2020 führte er als Internist eine Praxis in Würzburg. Seit 2020 ist Schuster Mitglied im Deutschen Ethikrat.
tagesschau.de: Der Angriff der Hamas galt Juden. Wie fühlen sich derzeit Jüdinnen und Juden in Deutschland vor diesem Hintergrund?
Schuster: Es gibt ein großes Gefühl und Unsicherheit und Angst. Zwar sind jüdische Einrichtungen und Synagogen bereits seit dem Attentat von Halle vor vier Jahren sowohl personell als auch technisch gut geschützt. Die Problematik ist, dass sich insbesondere im großstädtischen Bereich - in Berlin, aber auch in Nordrhein-Westfalen - viele Juden nicht mehr als solche zu zeigen trauen, etwa eine Kippa oder einen Davidstern als Schmuckkette zu tragen. Das ist unerträglich.
"Muslime nicht unter Generalverdacht stellen"
tagesschau.de: Haben wir es derzeit vor allem Antisemitismus der Migrationsgesellschaft zu tun?
Schuster: Was wir seit dem Attentat der Hamas derzeit auf den Straßen sehen, sind tatsächlich eher Menschen mit arabischem Migrationshintergrund. Das Ganze jetzt auf muslimisch geprägten Antisemitismus zu verengen, wäre aber falsch. Wir dürfen ohnehin Muslime nicht unter Generalverdacht stellen. Auch wenn die letzten Wochen bedauerlicherweise zeigen, wie viele Menschen aus diesem Milieu für Judenhass und Israelfeindlichkeit empfänglich sind.
Aber bereits vor dem 7. Oktober hatten wir in den vergangenen Jahren eine Zunahme des Antisemitismus in Deutschland - und zwar auch in der Mitte der Gesellschaft. Und es ist klar, dass der Antisemitismus auf der rechtsextremen politischen Seite stark ist - und mir ehrlicherweise große Sorgen bereitet.
"Wehrhaftigkeit des Staates gerät an Grenzen"
tagesschau.de: Bundeskanzler Scholz hat bei der Gedenkfeier in der Synagoge gesagt, es sei unerträglich, dass Jüdinnen und Juden hinter immer größeren Schutzschilden leben müssten. Wie könnte sich jüdisches Leben hier bald wieder unbeschwerter abspielen?
Schuster: Ich hoffe, dass das, was wir gerade auf deutschen Straßen erleben, wieder verschwindet - und da geht mein Appell an die Justiz: Wir haben in Deutschland gute Gesetze - aber unabhängig davon muss der Rechtsstaat sich jetzt wehrhaft zeigen und diese bei antisemitischen Vorkommnissen auch anwenden. Zum Teil sehen wir, dass die Wehrhaftigkeit auch an ihre Grenzen gerät. Daran muss sich etwas ändern. Wir brauchen Strafen, die auch abschreckend wirken.
tagesschau.de: Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung hat in dieser Woche die deutsche Zivilgesellschaft dafür kritisiert, eben keine zahlenstarke Solidarität nach dem 7. Oktober für Israel zu zeigen. Sehen Sie das auch so?
Schuster: Ich würde auch erwarten, dass von der Zivilgesellschaft es doch noch etwas deutlichere Signale für Israel gibt. Auf der anderen Seite gibt es zur Zeit viel mehr Teilnehmer bei Gedenkstunden. In Würzburg hatten wir zur Gedenkfeier der Pogromnacht noch nie so viele wie dieses Jahr - das sollten wir auch nicht kleinreden.
"Wichtig, schon im Kindergartenalter zu sensibilisieren"
tagesschau.de: Hat die deutsche Gesellschaft ein Problem mit Israel? Wie erklären Sie sich die nur zaghaften pro-israelischen Demos?
Schuster: Das würde ich nicht sagen. Zwar hat man zu Anfang der deutsch-israelischen diplomatischen Beziehungen hier mit Euphorie reagiert und in Israel eher skeptisch, das hat sich um 180 Grad gedreht. Kritik an der israelischen Regierung, an der Justizreform oder Siedlungspolitik etwa ist ja vollkommen legitim. Aber wo das Existenzrecht Israel infrage gestellt und der jüdische Staat dämonisiert wird, da fängt israelfeindlicher Antisemitismus an.
Ich glaube, dass momentan in der deutschen Gesellschaft nicht ganz klar ist, dass die viel zu vielen zivilen Opfer im Gazastreifen von der Hamas als menschliche Schutzschilde benutzt werden - und dass die Hamas eine Terrororganisation ist, die dafür verantwortlich ist, weil sie sich bewusst hinter zivilen Orten wie Krankenhäusern verschanzt.
tagesschau.de: Wir hielten uns hierzulande vielleicht zu lange für immun gegen Antisemitismus aufgrund unserer Geschichte - und gelten auch schon mal als Erinnerungsweltmeister. Reicht die Gedenkkultur nicht aus, um die Gesellschaft heute zu erreichen?
Schuster: Gedenktage und Gedenkkultur sind ausgesprochen wichtig. Aber es ist notwendig, schon in früher Jugend entsprechend zu erziehen. Wir brauchen vom Kindergartenalter an kindgerechte Sensibilisierung für Antisemitismus. Lehrer müssen wissen, wie sie mit Antisemitismus an der Schule umgehen - dafür gibt es jetzt einen Studiengang zur "antisemitismuskritischen Bildung" in Würzburg. Den sollte es an jeder Uni geben - denn keiner wird als Antisemit geboren.
Das Gespräch führte Corinna Emundts, tagesschau.de.