Deutschlands Russlandpolitik Merkels Versäumnisse
Die Kanzlerin a. D. kehrt zurück in die Öffentlichkeit - und muss sich wegen Putins Ukraine-Krieg unangenehmen Fragen stellen. Außenpolitik-Expertin Schwarzer über Fehler der Russlandpolitik in der Merkel-Ära.
tagesschau.de: Die Energieabhängigkeit von Russland wurde in der späteren Merkel-Regierungsphase sogar ausgebaut. Wie konnte die damalige Kanzlerin eine so gefährliche Abhängigkeit überhaupt eingehen?
Daniela Schwarzer: Zum einen hatte die Bundesregierung das wirtschaftliche Interesse, fossile Brennstoffe aus Russland günstig einkaufen zu können. Zudem gab es bei Angela Merkel, aber auch beim damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier die über Jahrzehnte gewachsene Überzeugung, dass man mit Russland auf unserem Kontinent in Partnerschaft besser dasteht als in Konfrontation. Man ging dabei davon aus, dass wirtschaftliche Verflechtung, auch kultureller und politischer Austausch dazu beitragen, dass man friedlich koexistiert. Das Aggressionspotenzial und der Wille zu einer imperialistischen Machtausdehnung wurde dabei unterschätzt.
tagesschau.de: Welche Fehler hat Merkel in ihrer Russlandpolitik gemacht?
Schwarzer: Ein politisches Versäumnis war, die einseitige Energieabhängigkeit zuzulassen. Denn seit der Krim-Annexion wurde in der Europäischen Union über das Thema Energie- und Versorgungssicherheit sehr intensiv beraten. Es war klar, dass die Abhängigkeit von Russland sehr groß ist - und dass dies Risiken birgt. Und es gab falsche Grundannahmen über die Absichten und Instrumente, die Putin einsetzt.
tagesschau.de: Was hätte Deutschland und Europa anders machen können?
Schwarzer: Es wurde damals zu wenig für die Diversifizierung der Energiequellen in Europa wie auch in Deutschland getan, um schneller unabhängig von Russland werden zu können. Dadurch wurde der Handlungsspielraum eingeschränkt, den wir jetzt bräuchten, um die Ukraine zu schützen.
tagesschau.de: Merkel hat den russischen Angriff auf die Ukraine gerade als "tiefgreifende Zäsur" bezeichnet - hat Putin Sie als Expertin mit diesem Schritt ebenso überrascht wie die Spitzenpolitik?
Schwarzer: Ich war nicht wirklich überrascht: Ich nahm die Berichte über rund 120.000 stationierte russische Soldaten an der ostukrainischen Grenze mit dem Aufbau von Feldlazaretten, einschließlich der Lieferung von Frischblutkonserven sehr ernst - vor dem Hintergrund, dass Putin seine Vision von einem größeren Russland bereits nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 formuliert und im Sommer 2021 noch weiter formuliert hatte. Und die schloss Ex-Sowjetrepubliken wie die Ukraine explizit mit ein.
Es gab Worst-Case-Szenarien
tagesschau.de: Wurde die Bundesregierung unter Merkel und ihrem langjährigen Außenminister Steinmeier nicht von Expertenseite vor Worst-Case-Szenarien dieser Art gewarnt?
Schwarzer: Es wurde seit 2008 - dem Krieg, den Russland gegen Georgien geführt hat, immer wieder darüber diskutiert, was Putin will und zu welchen Schritten er bereit ist. Und spätestens seit der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Osten der Ukraine 2014 waren die Worst-Case-Szenarien auf dem Tisch. Ganz besonders, nachdem Putin im vergangenen Sommer seine imperialistische Vision von einem größeren Russland als Text veröffentlicht hatte - und der Ukraine immer wieder das Recht zur Existenz als eigenständige Nation abgesprochen hat.
tagesschau.de: Trotzdem schien Berlin nicht von einem solchen Schritt Putins auszugehen. Merkel hat sogar bis zum Schluss die umstrittene Ostsee-Gaspipeline Nord Stream II unterstützt.
Schwarzer: Diese Szenarien wurden von der Regierung Merkel zwar zur Kenntnis genommen, auch der Rat von vielen Russlandexperten. Etwa, wie Putin die Rhetorik zum Thema Ausdehnung Russlands weiterentwickelt hat. Aber offensichtlich war die Risikowahrnehmung bei der Politik eine andere. Man dachte, mit gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten und dem Kauf von fossilen Brennstoffen, Russland davon abhalten zu können. Ein solch brutaler Angriffskrieg war für viele auch deshalb nicht vorstellbar, weil die Kosten für Russland sehr hoch sind. Aber Putins Rationalität ist einfach eine andere.
tagesschau.de: Bundespräsident Steinmeier hat für seine Zeit als Außenminister kürzlich bereits Fehleinschätzungen zugegeben. Wäre das jetzt nicht auch für Merkel angebracht?
Schwarzer: Das ist ihre persönliche Entscheidung. Wichtiger finde ich, dass wir aus diesen Fehlern lernen und die Lehren auch auf andere Felder der Außenpolitik anwenden. Das geschieht jetzt schon. Es werden bereits politische Schlussfolgerungen aus der Situation gezogen: Etwa, dass es für Deutschland und Europa schwierig ist, Energieembargos zu verhängen und gleichzeitig die Sorge vor russischen Lieferstopps besteht. Es wird jetzt auch schon anders auf die gegenseitige Abhängigkeit zwischen China und Europa geschaut. Die Analysen dieser Abhängigkeiten - gerade, wenn es um einen autoritären Staat geht - und: Worst-Case-Szenarien werden jetzt viel ernster genommen.
Die Lehren aus Putins Verhalten
tagesschau.de: Was bedeutet das?
Schwarzer: Es geht nicht darum, dass wir uns wirtschaftlich abschotten. Wir müssen aber unsere Risiken kennen und diversifizieren - gerade in einer Welt der wirtschaftlichen Offenheit. Dies ist nötig, um politischen Handlungsspielraum zu haben und unsere Kosten im Falle einer Konfrontation zu verringern.
tagesschau.de: Was sollte Kanzler Olaf Scholz aus den geopolitischen Fehlern der Vergangenheit konkret lernen?
Schwarzer: Er hat in seiner Bundestagsrede am 27. Februar bereits ganz klare Konsequenzen für die deutsche Russlandpolitik gezogen. Zum einen die Ankündigung, die deutsche Abhängigkeit von russischen Energieimporten möglichst schnell zu reduzieren. Zum anderen die Ukraine durch Waffenexporte zu unterstützen und auch die deutsche Verteidigung besser zu finanzieren. Das ist eine wichtige Neuausrichtung. In Bezug auf China ist die große Lehre aus Putins Verhalten, zu schauen, in welchen Bereichen wir so abhängig sind, dass wir im Konfliktfall in der Lage sind, eine unabhängige deutsche oder europäische Außenpolitik zu verfolgen, ohne dass die Kosten für uns zu hoch sind.
Das Interview führte Corinna Emundts, tagesschau.de