Migrationspolitik "Hundertprozentige Steuerung kann nicht funktionieren"
Im Moment kommen wieder viele Menschen in Europa an, viele Kommunen in Deutschland sind überlastet. Doch auch wenn die Politik es sich wünscht - Migration lässt sich nicht hundertprozentig steuern, sagt Migrationsforscher Schammann.
tagesschau.de: In Deutschland hört man aus vielen Kommunen, sie seien am Limit. Es mangelt nicht nur an Unterkünften, sondern auch an Plätzen in Schulen und Kitas. Kennen Sie noch Kommunen, die noch Kapazitäten haben?
Hannes Schammann: Wir sehen, dass eigentlich nahezu überall die Lage angespannt ist. Aber es gibt Unterschiede im Grad der Anspannung: Einige Kommunen haben gut vorgesorgt, sie haben flexible Unterbringungskonzepte erarbeitet, in der Zeit, als die Zahl der ankommenden Menschen niedrig war.
Aber Sie sagen ja richtig, es geht nicht nur um Unterbringung, es geht darüber hinaus um Kita-Plätze und ähnliches. Und da trifft die Zuwanderung auf ein ohnehin schon marodes System. Das merken wir schon sehr deutlich in den meisten Kommunen. Wir müssen in Zukunft also lernen, effizienter zu werden.
Hannes Schammann ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Er leitet dort die Migration Policy Research Group.
Davor arbeitete er sechs Jahre in der migrations- und integrationspolitischen Praxis: als Projektleiter für Migration und Integration bei der Robert Bosch Stiftung, als Referent für Grundsatzfragen der Integration beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und als Koordinator für Integrationsprojekte bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Ev. Jugendsozialarbeit.
tagesschau.de: Wie können Kommunen denn effizienter werden?
Schammann: Vor Ort muss man schauen, dass man in flexiblen Konzepten die Schwankungen der ankommenden Flüchtlinge zu den Unterbringungen zur Integration mitdenkt. Und wir müssen an einer besseren Verteilung arbeiten. Wo gibt es gerade noch freie Unterkünfte? Wo passen die Menschen, die hier ankommen, mit ihren Fähigkeiten am besten hin?
Wir müssen Menschen von Vorhinein an die Orte bringen, wo sie sich möglichst einbringen können. Sie können dann zügig Teil des Arbeitsmarktes werden. So werden zudem die Kosten von Integration gesenkt. Idealerweise nicht nur auf Landesebene, sondern deutschland- oder aber auch europaweit.
Sozialleistungen als Anreiz?
tagesschau.de: Einigen Parteien gehen die Pläne von Innenministerin Nancy Faeser nicht weit genug. Unter anderem fordern die CSU, Teile der CDU und auch die FDP, dass Asylsuchende statt Geld Sachleistungen erhalten sollen, um Anreize zur Migration zu senken. Kann das gelingen?
Schammann: Es gibt diese Sachleistungen ja bereits - und zwar in unterschiedlicher Intensität in den Bundesländern. Wir können dort, wo es Sachleistungen statt Geld gibt, keine nennenswerten Unterschiede feststellen. Wir sehen nur, dass Sachleistungen erheblichen bürokratischen Aufwand verursachen. Irgendjemand muss Essen oder Kleidung schließlich einkaufen und an die Geflüchteten ausgeben.
Generell halte ich wenig von der Instrumentalisierung von Sozialleistungen als Anreiz, egal in welche Richtung. Die wenigen Studien, die es dazu gibt, legen nahe, dass man sich davon nicht zu viel versprechen sollte.
tagesschau.de: Welche Anreize gibt es denn, die Flüchtlinge an bestimmte Orte ziehen?
Schammann: Die Anreize, die wissenschaftlich belegt sind, sind Familie oder enge Freunde. Flüchtlinge erhoffen sich durch ein Netzwerk gut in der Gesellschaft anzukommen, leichter eine Unterkunft oder Arbeit zu finden. Das ist schon seit Hunderten Jahren so und das sieht man beispielsweise auch an den Germantowns oder Chinatowns in vielen amerikanischen Städten.
tagesschau.de: Familie und Freunde wiegen also schwerer als Sozialleistungen?
Schammann: Es wird niemand darauf verzichten, zu seiner Familie oder zu engen Freunden zu ziehen, nur um woanders ein bisschen höhere soziale Leistungen zu erhalten.
Migration lässt sich nicht vollständig regulieren
tagesschau.de: Die Bundesinnenministerin will gemeinsam mit europäischen Partnern die Migration nach Europa begrenzen. Kann das gelingen?
Schammann: Wenn Kriege und Krisen entstehen, sind Menschen gezwungen zu flüchten. Die Hauptbotschaft in der aktuellen Debatte sollte deshalb sein, dass eine hundertprozentige Steuerung von Migration nicht funktionieren kann. Diesen Mut, sich das einzugestehen, sollte man haben.
In rechtspopulistischen Kreisen dreht sich vieles darum, am Beispiel der Migrationspolitik zu zeigen, dass die liberale Demokratie am Ende ist und der Staat scheitert. Wenn man jetzt verspricht, vollständig zu regulieren und zu steuern, dann wird das Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten sein.
tagesschau.de: Auch wenn, wie sie sagen, keine vollständige Steuerung möglich ist: Kann die Innenministerin mit ihren Plänen erreichen, dass weniger Flüchtlinge zu uns nach Deutschland kommen?
Schammann: Die Sicherung der EU-Außengrenzen kann kurzfristig dazu führen, dass weniger Flüchtlinge nach Europa kommen. Aber es wird in den nächsten Jahren einen weltweiten Anstieg an Menschen geben, die gezwungen sind, ihre Heimat aufgrund der Klimakrise zu verlassen. Da hilft es uns relativ wenig, wenn wir in Europa für einen Moment die Zahlen drücken.
Wir brauchen internationale Lösungen, die über Europa hinausgehen. Wir müssen uns überlegen, wie man auch einen Teil der Migration legalisieren kann, um Menschen als Arbeitskräften Wege zu eröffnen. Das heißt, es geht doch sehr stark darum, Migration in die richtigen Kanäle zu lenken. Aber das wird Zeit brauchen.
Das Gespräch führte Viktoria Kleber, ARD-Hauptstadtstudio.