SPD um Kutschaty Kammerflimmern in Nordrhein-Westfalen
Der überraschende Rücktritt von Landeschef Kutschaty hat die SPD in Nordrhein-Westfalen ins Chaos gestürzt. Streit, Intrigen und eine Wahlniederlage hatten den größten Landesverband zuvor regelrecht zermürbt.
Erbe und Misere liegen bei der SPD in Nordrhein-Westfalen nahe beieinander. Erst im vergangenen Jahr hat sie in bester Düsseldorfer Lage ihre neue Zentrale eröffnet. Das Johannes-Rau-Haus verströmt den Charme einer modernen Büroimmobilie und erinnert die SPD schon wegen seiner Opulenz daran, dass es in NRW einmal bessere Zeiten für sie gab.
Ausgerechnet einer der ersten größeren Auftritte des Landesvorsitzenden Thomas Kutschaty vor Journalisten in dem neuen Bau war nun sein Rücktritt. Das hatte die Partei sich vermutlich anders vorgestellt. Und es zeigt: Von der Form, die sie einst unter ihrem Langzeit-Ministerpräsidenten Johannes Rau hatte, ist die SPD im bevölkerungsreichsten Bundesland weit entfernt.
Nach dem überraschenden Rückzug des 54 Jahre alten Anwalts Kutschaty, nach nur zwei Jahren im Amt, steht die Partei mit leeren Händen da. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Nichts war vorbereitet, alles muss jetzt in Windeseile improvisiert werden.
Drei Niederlagen und die Folgen
Nach der Niederlage 2017 gegen die CDU warf Ministerpräsidentin Hannelore Kraft der Partei noch am Wahlabend die Brocken vor die Füße. Aus den Machtkämpfen um ihre und die Nachfolge von Fraktionschef Norbert Römer ging am Ende, nach quälenden Jahren der Selbstbeschäftigung, Kutschaty als Sieger hervor.
Erst schnappte sich der ehemalige NRW-Justizminister in einer Kampfabstimmung 2018 den Fraktionsvorsitz gegen den favorisierten Marc Herter. Drei Jahre später boxte der Essener sich auch den Weg an die Parteispitze frei, nachdem er mit Hilfe von Getreuen den glücklosen Bundestagsabgeordneten Sebastian Hartmann an der Spitze des Landesverbandes regelrecht sturmreif geschossen hatte.
Debakel bei Landtagswahl
Doch der Landtagswahlkampf 2022 gegen den kurz zuvor frisch ins Amt gewählten CDU-Vorsitzenden Hendrik Wüst geriet für die SPD und ihren Spitzenmann Kutschaty zum Debakel. Mit nur 26,7 Prozent erzielte sie ihr historisch schlechtestes Ergebnis im Land. Was fast noch schwerer wiegt: Zum insgesamt dritten Mal nach 2005 und 2017 verlor die Partei gegen die CDU, nachdem sie zuvor 39 Jahre am Stück in Düsseldorf regiert hatte. Die Erzählung vom sozialdemokratischen Stammland an Rhein und Ruhr, wie sie Genossen zwischen Aachen und Porta Westfalica gern bemühen, ist nur noch eine blasse Erinnerung.
Die SPD weiß, dass sie allein mit Herzkammer-Rhetorik die Wähler nicht mehr begeistern kann. Zumal im Moment Kammerflimmern die passendere Metapher wäre. Zwar war das Ergebnis bei der Bundestagswahl im Herbst 2021 mit 29,1 Prozent besser als bei der Landtagswahl. Gleichwohl zeigt der Langfristtrend nach unten. Vor allem die geringe Wahlbeteiligung in den einstigen Hochburgen im Ruhrgebiet ist für die SPD ein Problem.
"Das Imperium schlägt zurück"
Seit der Wahl rumort es in der Partei. Viele werfen Kutschaty vor, der Hauptverantwortliche der Niederlage zu sein. Mit seiner Wahlanalyse habe er sich zu viel Zeit gelassen, es fehle ihm an Strahlkraft und einer klaren Idee. Bei dem Versuch, eine junge und unbekannte Ratsfrau aus Bonn als Generalsekretärin durchzusetzen, ist es nun zum Showdown gekommen - mit dem schlechteren Ende für Kutschaty. Der Landesvorstand ist ihm nicht gefolgt.
Am nächsten Tag erklärte der gedemütigte Chef seinen Rückzug von der Parteispitze. Mittlerweile heißt es an vielen Stellen, dass "der Thomas nicht mehr gut kommuniziert" hat. Als Fraktionschef und Oppositionsführer im NRW-Landtag macht er vorerst weiter, seine Autorität aber dürfte gelitten haben. In den nächsten Wochen will die Fraktion neu wählen, die Interessenten für das Amt ringen gerade um die Pole-Position.
Kutschaty hat womöglich seine parteiinternen Gegner unterschätzt. Sein Weg an die Spitze hat Wunden hinterlassen bei denen, die andere Pläne hatten. So gesehen sind jetzt alte Rechnungen beglichen worden. Ein Insider bringt es auf die Formel: "Das Imperium schlägt zurück."
Das Problem mit dem Proporz
Beobachtern ist klar, dass die SPD in NRW ein Dauerproblem hat. Es ist der parteiinterne Proporzanspruch der Regionen. Von denen gibt es vier im Landesverband und sie achten stets darauf, dass sie bei der Vergabe von Spitzenposten bedacht werden. Das kann lähmen. Schon hört man Einzelne, denen das nicht mehr zeitgemäß erscheint. Nicht wo jemand herkommt sei entscheidend, sondern was er oder sie kann.
Eine zweite Baustelle ist das Personal. In der Landtagsfraktion gibt es kaum noch Abgeordnete, die einmal ein Regierungsamt hatten. Zwar freuen sich etliche Genossen über einige anerkannte Oberbürgermeister und Landräte, doch von denen hat bisher niemand öffentlich Interesse erkennen lassen, den darbenden Landesverband führen zu wollen. Zu groß scheint das Risiko, am Ende ein schlechtes Geschäft gemacht zu haben.
Es ist in gewisser Hinsicht eine Geschichte, wie sie nur die Politik schreibt, dass nun ausgerechnet Herter, der gegen Kutschaty Sieglose, die Partei übergangsweise führen und den Neubeginn organisieren soll. Er, der inzwischen Oberbürgermeister im westfälischen Hamm ist, beginnt mit einem leeren Blatt.
Gefühl für den "Abendbrottisch"
Vermutlich wird er in den nächsten Wochen viel telefonieren, Scherben zusammenkehren. "Alle mitnehmen", wie es heißt: Fraktion und Regionen, Kommunale, die Landesgruppe im Bundestag und die notorisch aufmüpfigen Jusos. Die SPD ist tief verunsichert, der für Mai geplante Parteitag auf August verschoben. Sie will stattdessen auf einem Konvent beraten. Wieder ein Gefühl für die Themen bekommen, so Herter, über "die Menschen am Abendbrottisch sprechen". Für eine selbsternannte Volkspartei eine bemerkenswerte Aussage.
Auch für die Berliner Parteiführung dürften die Vorgänge in NRW nicht folgenlos bleiben. Ein ehemaliger Spitzengenosse sagt, die Bundes-SPD nehme bei Wahlen die Stimmen aus NRW gerne mit, aber nicht die Köpfe. Für viele in Berlin sei der rheinisch-kapitalistische Politikstil im Westen eher befremdlich. Aber ohne Erfolg in NRW kein Erfolg im Bund, das ist die einfache Formel. Dafür müsse man in NRW in der Regel sechs bis acht Prozentpunkte über dem Bundesschnitt liegen. Diese Ambivalenz, fürchtet der SPD-Mann, schmälert auf Dauer den Einfluss des größten Landesverbandes in Berlin - und die Chancen auf erfolgreiche Bundestagswahlen.
Übergangschef Herter scheint das erkannt zu haben. Auf die Frage des "Kölner Stadt-Anzeigers", ob die Landes-SPD nicht jetzt einen prominenten Bundespolitiker an der Spitze brauche, antwortet der: "Ich würde eher sagen, wir hätten eine falsche Personalauswahl getroffen, wenn die neue Spitze der NRW-SPD nicht sehr schnell über bundesweite Prominenz verfügen würde."
An das Erbe Johannes Raus anzuknüpfen, wird nicht einfach. Nahe der Staatskanzlei steht er in Bronze und blickt auf den Rhein. Und an der Universität seiner Heimatstadt Wuppertal gibt es seit vergangenem Sommer das "Johannes-Rau-Zentrum", das seine Privatbibliothek beherbergt. Eröffnet hat es übrigens Hendrik Wüst.