Wirtschaftspolitik Wie die SPD den Grünen den Rang abläuft
Die Affäre um Habecks Staatssekretär Graichen hat die Schlagzeilen der vergangenen Wochen beherrscht. Doch auch inhaltlich steht das Wirtschaftsministerium unter Druck. Die SPD mischt sich immer stärker in die Wirtschaftspolitik ein.
Mit einem Lächeln im Gesicht steuert Olaf Scholz den Elektrotransporter von Mercedes. Ortstermin in Ludwigsfelde, Brandenburg. Das Mercedes-Werk liegt mitten im Wahlkreis des Bundeskanzlers. Scholz habe sich selbst eingeladen, heißt es.
Richtig glücklich scheint man bei Mercedes über den Besuch nicht. Denn auch wenn es keiner aussprechen mag: Die Zukunft des Werkes vor den Toren Berlins steht auf der Kippe. Der Umbruch in der deutschen Automobilindustrie, hohe Energie- und Arbeitskosten und stärkere Subventionen könnten dafür sorgen, dass Mercedes die Produktion oder große Teile davon künftig an andere Standorte verlagert - zum Beispiel nach Polen oder in die USA.
Der Wahlkreisabgeordnete Scholz will das verhindern. Er hoffe, dass der Standort seine lange Tradition fortsetzen könne. Ein normaler Wahlkreistermin könnte man meinen, es geht schließlich um 2000 Industriearbeitsplätze. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Familien sind klassische SPD-Klientel. Aber Scholz ist eben kein normaler Abgeordneter.
Treffen abseits der Öffentlichkeit
Der Bundeskanzler sendet mit seinem Besuch auch ein Signal an die Industrie in ganz Deutschland: Die SPD will die Industriearbeitsplätze im Land erhalten. Ob die Grünen mit ihrem Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck das auch wollen - in der SPD scheint man sich nicht sicher zu sein. Habeck habe aus dem Ministerium eher ein "Wirtschaftsabwicklungsministerium" gemacht, heißt es unter der Hand bei manchen SPD-Abgeordneten. Es sei gut, dass der Kanzler sich kümmere.
Diesen Dienstag im Kanzleramt empfängt Scholz abseits der Öffentlichkeit die Chefs der drei deutschen Autogrößen Volkswagen, BMW und Mercedes. Hauptthemen des geheimen Krisengipfels: die drohende Abwanderung von Produktion und Arbeitsplätzen, die hohen Energiepreise und die Konkurrenz und Abhängigkeit von China. Nicht dabei ist Habeck - obwohl der Wirtschaftsminister zuständig wäre.
Die deutsche Autoindustrie hat den Trend zum E-Auto lange verschlafen. Unter den zehn meistverkauften Elektroautos weltweit im Jahr 2022 ist nur ein deutsches, der ID4 von VW. Ansonsten dominieren mittlerweile chinesische Fabrikate und zwei Modelle von Tesla. Auch die Grünen sehen die Probleme der deutschen Automobilindustrie, aber sie ziehen daraus andere Schlüsse als die SPD.
Die Arbeitsplätze stehen bei der Partei des Wirtschaftsministers weniger im Mittelpunkt, fürchtet die SPD. Stattdessen liegt der Fokus deutlicher auf der Transformation vom Verbrenner zum E-Auto.
Unternehmen suchen die Nähe zu Scholz
Auf einer Podiumsdiskussion einer Mittelstandsvereinigung in der vorvergangenen Woche diskutieren Wirtschaftspolitiker, für die Grünen sitzt die ehemalige Berliner Verkehrssenatorin Bettina Jarasch auf dem Podium. Anschließend sagt sie dem ARD-Hauptstadtstudio, man müsse entschlossen vorgehen, sonst schade man der deutschen Industrie. Habeck tue das. "Insofern kann ich nur sagen, die Automobilindustrie kann froh sein, dass sie diesen grünen Wirtschaftsminister hat."
Aber ist die Autoindustrie so froh? Die Chefs der wichtigsten deutschen Unternehmen suchen deutlich die Nähe zu Scholz und seiner SPD. Im Willy-Brandt-Haus hat sich ein Gesprächskreis etabliert. SPD-Parteichef Lars Klingbeil trifft sich regelmäßig mit den Geschäftsführern deutscher Industrieunternehmen. Öffentlichkeit ist dabei nicht erwünscht.
Vor der SPD-Parteizentrale geben sich die Topmanager gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio zugeknöpft. Auf die Frage, warum sie heute hier sind, sagt BASF-Chef Martin Brudermüller: "Ich glaube nicht, dass wir das jetzt erzählen möchten." Auch der Mercedes-Vorstandsvorsitzende Ola Källenius ist kurz angebunden. Sie träfen den SPD-Chef Klingbeil, es gehe um einen Austausch, einen konkreten Grund für den Besuch gebe es nicht. Auch Siemens-CEO Roland Busch und Continental-Vorstand Ariane Reinhart gehören zu der Gruppe.
Die deutschen Industriebosse fahren also mindestens zweigleisig. Es gibt zwar auch Gespräche mit Habeck, aber nur auf den grünen Wirtschaftsminister zu setzen, scheint ihnen offenbar zu wenig. In der SPD treffen sie dabei auf offene Türen, denn innerhalb der Ampelkoalition ist ein Konflikt zwischen Grünen und SPD ausgebrochen: Wer vertritt die deutschen Wirtschaftsinteressen besser? Sozialdemokraten oder Grüne?
Es geht auch um Handelsabkommen
Der Streit bleibt dabei nicht nur auf die Industriepolitik beschränkt, sondern zeigt sich auch bei Verhandlungen über internationale Handelsabkommen. Von der Öffentlichkeit ziemlich unbeachtet wurde im vergangenen November vom deutschen Kabinett ein Eckpunktepapier beschlossen, auch mit den Stimmen der SPD-Ministerinnen und -Minister. Darin geht es unter anderem darum, Sanktionen in EU-Handelsabkommen zu ermöglichen, die etwa in Kraft treten würden, wenn Länder sich nicht an verabredete Klimaziele halten.
Die Argumentation der Grünen lautet sinngemäß: Die Regierung könne ja nicht bei den deutschen Bürgerinnen und Bürgern und Unternehmen versuchen, jede Tonne CO2 zu vermeiden, und von anderen gar nichts fordern. Der Kanzler stelle Rohstoffe über Menschenrechte und Klimaschutz. Seit November war von dem Kabinettsbeschluss aber nichts mehr zu hören.
Eines der Handelsabkommen, um die es geht, ist eine Vereinbarung mit Kenia. Dort war der Kanzler gerade erst - und die Kenianer waren offenbar nicht erfreut über die von den grünen Ministerien in den Entwurf gedrückten Formulierungen zu Sanktionen. Im Land wird so eine Einmischung als Neo-Kolonialismus gesehen. Der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Esra Limbacher, sagt dem ARD-Hauptstadtstudio dazu, es gelte anzuerkennen, "dass wir nicht allein auf der Welt sind" und bei Handelsabkommen zu akzeptieren, "dass in anderen Ländern andere Standards bestehen, die wir aus Deutschland nicht so einfach ändern können".
Ein Streit scheint programmiert
Noch gibt es keinen öffentlichen Entwurf, aber nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios hat sich die Sicht der SPD und des Kanzleramts beim Vertrag mit Kenia durchgesetzt. Aus Regierungskreisen heißt es, es gebe im Text keine Androhung von Sanktionen bei verfehlten Klima- oder Menschenrechtszielen mehr. Stattdessen solle nach fünf Jahren überprüft werden, ob Kenia die Nachhaltigkeitsziele einhalte.
Das Abkommen mit dem afrikanischen Land könnte Vorlage sein für andere Handelsabkommen wie Mercosur. Ein Streit über die Sanktionsmöglichkeiten zwischen SPD-geführtem Kanzleramt und grünem Wirtschafts- und Außenministerium scheint programmiert.
Der Grundkonflikt zwischen SPD und Grünen in der Außen- und vor allem in der Außenwirtschaftspolitik gärt schon länger. Auch bei der Chinastrategie sind sie sich weiter nicht einig. Sichtbar wurde das schon im vergangenen Herbst. Auf einer Auslandsreise wird die grüne Außenministerin Annalena Baerbock auf die anstehende China-Reise des Kanzlers angesprochen. Baerbock gibt dem Kanzler kaum verklausuliert zu verstehen, was sie von ihm in China erwartet. Scholz solle ansprechen, "dass die Frage von Menschenrechten und die Frage der Anerkennung des internationalen Rechts unsere Grundlage der internationalen Kooperation ist".
In der SPD ist man empört. Doch Scholz schweigt und bringt einen Erfolg aus Peking mit: China sendet eine öffentliche Warnung an Russland, im Krieg gegen die Ukraine keine Atomwaffen einzusetzen.
Anfang Mai wagt der Wirtschaftsminister einen Vorstoß, der aber offenbar nicht in der Ampelkoalition abgestimmt ist: Habeck schlägt vor, künftig auch Investitionen deutscher Firmen in China auf die Verletzung deutscher Interessen hin zu prüfen.
Beide Parteien sehen sich als große Pragmatiker
Auch wegen solcher Ideen wächst in der SPD die Sorge, dass China als Handelspartner und Investor nicht schnell genug zu ersetzen wäre. Der Konflikt lässt sich nicht einfach auflösen. Sowohl Grüne als auch SPD sehen sich als die größeren Pragmatiker. Die Grünen, weil sie mit wirtschaftlichem Druck Verbesserungen bei Menschenrechten und Klimaschutz durchsetzen wollen, die SPD, weil sie der Meinung ist, dass nur eine starke deutsche Industrie das Land in die Lage versetzen kann, die Transformation zur klimaneutralen Wirtschaft zu schaffen.
Für die Grünen gibt es derzeit noch mehr Probleme als den Konflikt mit der SPD. Das Wirtschaftsministerium wirkt aktuell durch die Affäre um Habecks Staatssekretär Patrick Graichen gelähmt. Unklar ist, wie schnell nach dessen Abgang insbesondere die Transformationspolitik - etwa beim Thema Heizungen - wieder Tritt fasst.
Ob der Kanzler alle 2000 Arbeitsplätze im Mercedes-Werk in Ludwigsfelde retten kann, ist aber auch noch nicht sicher. Auf Anfrage des ARD-Hauptstadtstudios weicht Mercedes aus. Aus der Presseabteilung heißt es nur: "Bitte haben Sie Verständnis, dass wir uns zum heutigen Zeitpunkt noch nicht weiter dazu äußern."
Mehr zu diesem Thema sehen Sie heute Abend im Bericht aus Berlin ab 18.00 Uhr im Ersten.