Bundespräsident in Freiberg Was bringen Steinmeiers Ortsbesuche?
Drei Tage lang hat Bundespräsident Steinmeier seine Amtsgeschäfte im sächsischen Freiberg geführt. Das Ziel: Mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch kommen. Wie hat das funktioniert?
Das ist selten: Großer Auftrieb um bundespolitische Prominenz auf dem Weihnachtsmarkt in Freiberg. In einem standesgemäßen Pulk geht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Dienstagvormittag über den Markt der Bergarbeiterstadt und ruft "Glückauf" in die Menge. Er ist auf dem Weg ins Rathaus, um seine dreitägige "Ortszeit" anzutreten. Er soll sich ins Goldene Buch der Stadt eintragen und vielleicht drängt der Termin so, dass Steinmeier deswegen zunächst sehr schnell unterwegs ist. Oder es wirkt nur so, weil um ihn herum alles rennt.
Wer hier noch nicht wusste, dass das Staatsoberhaupt seine Aufwartung macht, bekommt es jetzt mit. Einer buht ihm hinterher, eine Frau ruft in ihr Handy und in die umstehenden Kameras "Hau ab!".
Weihnachtsmarktbesucher werden von Reportern angesprochen, wie sie das so finden, dass der Bundespräsident hier ist. Und, ja, was soll das überhaupt? Die Leute finden es mehrheitlich gut: Eine Passantin hat die Hoffnung, dass der Bundespräsident so mitbekommt, welche Herausforderungen es in der Region zu bewältigen gebe, eine andere findet es richtig, dass die Gesellschaft hier das Zeichen bekomme, gehört zu werden. Ihr Begleiter denkt aber nicht, dass man in drei Tagen etwas bewegen könne.
Wenig Gestaltungsraum
Tatsächlich wird Steinmeier keine Schecks verteilen und er hat auch kein Personal für die Pflegeheime oder das Krankenhaus mitgebracht. Die Gestaltungsspielräume des Bundespräsidenten sind klein. Jemandem wie Steinmeier, der als Kanzleramtschef und Außenminister jahrelang Bundes- und manchmal auch Weltpolitik gemacht hat, fällt es besonders schwer, sich mit der repräsentativen Rolle abzufinden.
Der Politikwissenschaftler Christian Schweiger, der an der TU Chemnitz lehrt und forscht, beschreibt Steinmeier in seiner Rolle zwar als grundsätzlich bürgernah, aber auch als "keinen besonderen Bundespräsidenten". Er habe bisher viel über Reden versucht, Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zu nehmen. Wenn es die Aufgabe ist, zu repräsentieren, repräsentiert Steinmeier gefühlt weniger die Menschen, die ihn sowieso nicht direkt gewählt haben, sondern vielmehr das demokratische System, das ihm am Herzen liegt. Wenn er die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie anmahnt, kann das nicht falsch sein, aber die Herzen der Leute erobert man so nicht.
"Er schaut richtig hin"
"Ortszeit Deutschland" soll das ändern. Für drei Tage verlegt der Bundespräsident dabei seine Amtsgeschäfte in eine kleinere, ländlich geprägte Stadt. In dieser Zeit schlendert er durch die Innenstadt, besucht regionale Betriebe und trifft sich mit Bürgerinnen und Bürgern zu Gesprächsrunden bei Kaffee und Kuchen.
Vor seinem Besuch in Freiberg versuchte Steinmeiers Sprecherin Cerstin Gammelin im Gespräch mit dem MDR dem Eindruck entgegenzutreten, das Format könnte nur ein weiterer Pressetermin sein, bei dem die Bundespolitik in die Provinz einfällt und schneller wieder weg ist, als man auf dem Marktplatz "Buh" rufen kann: "Er kommt nicht nur an und fährt nach einem Event wieder ab, sondern schaut richtig hin", sagte Gammelin.
Gesprächsrunde bei Kaffee und Kuchen: Steinmeiers Besuche sollen mehr als nur Pressetermine sein.
Ambivalenter Blick auf Steinmeier im Osten
Vier der mit Freiberg bisher fünf Städte, die Steinmeier im Rahmen der Ortszeit bisher besucht hat, liegen in Ostdeutschland. In Quedlinburg, Neustrelitz und Altenburg traf der Bundespräsident dieses Jahr schon Ostdeutsche im gleichen Rahmen. Damit hielt der Bundespräsident gewissermaßen das Wort, das er in der Rede nach seiner Wiederwahl gab - als er versprach, seinen ersten Amtstag nach der Wiederwahl in Ostdeutschland zu verbringen.
Wie Steinmeier in Ostdeutschland gesehen wird, das ist ambivalent. "Er wird hier mit Skepsis gesehen, weil er nicht nur aus dem politischen Betrieb, sondern auch aus der diplomatischen Elite kommt", sagt Schweiger. Sympathien habe er aber durchaus wegen der Positionen zu Russland, die er vertreten hat. Allerdings habe sich Steinmeier während der Pandemie zuweilen auch eindeutig positioniert und eine Haltung vertreten, die ihm nachgetragen werden könnte.
Weniger Protest als erwartet
Zumal in Freiberg: Die Stadt gehörte während der heißen Phase der Pandemie zu den Hotspots des Protestgeschehens in Sachsen. Warum die Menschen an den Protesten teilgenommen haben, wollte der Bundespräsident dann auch an der Kaffeetafel wissen, zu der er zwölf Freibergerinnen und Freiberger am Donnerstagnachmittag eingeladen hatte. Bei der Runde ging es auch um die Solidarität mit der Ukraine und um die Preisentwicklung.
Gegenwärtig spielt das Protestgeschehen auch in Freiberg eine untergeordnete Rolle. Zwar versuchen die "Freien Sachsen", eine rechtsextreme Partei, in Freiberg wie andernorts im Windschatten von Krieg und Preiskrise für ihre Zwecke zu mobilisieren, doch der "heiße Herbst" ist auch hier ausgeblieben. Gegen den Steinmeier-Besuch demonstrierten am Dienstagabend mit 200 Menschen weniger als erwartet.
Im schwäbischen Rottweil wurden Anfang Juni 450 Menschen beim Protest während des Steinmeier-Besuchs gezählt. Es war die bisher einzige westdeutsche Ortszeit-Station. In den übrigen Ortszeit-Städten wurden keine Proteste dokumentiert.
Die Bereitschaft zu reden
Als sich Steinmeier nach der Kaffeetafel am Mittwoch vor die Kameras stellt, wirkt er erschöpft, so als hätte er, wie früher, gerade mit politischen Widersachern verhandelt. Aus dem ersten Abtasten vom Marktplatz ist mittlerweile auch bei den Leuten die Bereitschaft geworden, zu reden. Was Steinmeier nun sagt, mag man als gebetsmühlenartig abtun, aber das ist es nicht: Es sei wichtig, dass der Dialog dort wieder in Gang komme, wo er zum Erliegen gekommen sei, und: "Das, was ich hier höre, nehme ich mit nach Berlin und speise es in die dortigen Gespräche ein."
Was von den Ortszeiten bleiben wird, hängt auch davon ab, wie es Steinmeier gelingt, dieses Versprechen einzulösen. "Das werden wir sehen", sagt Politikwissenschaftler Schweiger, der den Besuch in Freiberg aber durchaus als gelungen ansieht: "Allein aus der Medienberichterstattung in der Region zu schließen - die ja häufig sehr kritisch ist, wenn es um politische Vertreter aus Berlin geht - war das durchaus positiv, er scheint die Menschen mitgenommen zu haben."
Chance zur Profilierung
Schweiger sieht in den Herausforderungen der Gegenwart die Möglichkeit für Steinmeier, sich auch als Bundespräsident zu profilieren. Mit Politikverdrossenheit habe es in den 1980er-Jahren auch schon Bundespräsident Richard von Weizsäcker zu tun gehabt. "Aber da ging es ja noch nicht so weit, dass man sagte, die Menschen wenden sich ab von unserem politischen Prozess und wollen teilweise etwas anderes." Wenn es ihm gelänge, dem entgegenzuwirken, könnte Steinmeier als einer der großen Bundespräsidenten in die Geschichtsbücher eingehen, resümiert Schweiger.
Unverdrossen und ausdauernd das Gespräch zu suchen, sei dabei, sagt auch Schweiger, der einzige Weg. "Am besten wäre es natürlich, wenn Steinmeier seine Kolleginnen und Kollegen in Berlin dazu bringen könnte, mehr Zeit damit zu verbringen, Menschen zu treffen und ihnen zuzuhören." Ihnen zu zeigen: "Wir verstehen die Perspektive. Und wir tun unser Bestes, hier für alle Politik zu machen."