Eingang zum KZ Stutthof
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Revisionsverhandlung um KZ-Sekretärin Warum die späte Aufarbeitung wichtig ist

Stand: 31.07.2024 07:25 Uhr

Der Bundesgerichtshof überprüft das Urteil gegen eine ehemalige Sekretärin im NS-Konzentrationslager Stutthof. Sie war 2022 schuldig gesprochen worden. Warum die Aufarbeitung erst jetzt erfolgt - und dennoch wichtig ist.

Von Michael Nordhardt und Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion

Was ist die Vorgeschichte in diesem Verfahren?

Wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und Beihilfe zum versuchten Mord in weiteren fünf Fällen hatte das Landgericht Itzehoe die inzwischen 99-jährige Angeklagte im Dezember 2022 verurteilt. Die Taten wurden im NS-Konzentrationslager Stutthof östlich von Danzig begangen. Zwischen Juni 1943 und April 1945 sei die Frau dort Stenotypistin in der Lagerkommandatur gewesen.

Nach Überzeugung des Gerichts habe sie "willentlich unterstützt, dass Gefangene durch Vergasungen, durch lebensfeindliche Bedingungen im Lager, durch Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und durch Verschickung auf sogenannte Todesmärsche grausam getötet wurden.

Wichtig ist: Ihr war nicht vorgeworfen worden, dass sie selbst gemordet habe - nicht, dass sie etwa selbst auf Menschen geschossen oder die Gaskammern im Lager bedient habe. Aber: Sie soll zu den Schreckenstaten im KZ Hilfe geleistet haben.

In der Pressemitteilung des Landgerichts hieß es dazu: "Die Förderung dieser Taten durch die Angeklagte erfolgte durch die Erledigung von Schreibarbeit in der Kommandantur. Diese Tätigkeit war für die Organisation des Lagers und die Durchführung der grausamen, systematischen Tötungshandlungen notwendig." Zum damaligen Zeitpunkt war die Angeklagte 18 bzw. 19 Jahre alt. So ist es zu erklären, dass das Gericht eine Jugendstrafe verhängte. Diese wurde zur Bewährung ausgesetzt.

Warum geht es jetzt nochmal um den Fall?

Die Angeklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Dafür ist der Bundesgerichtshof (BGH) zuständig - im konkreten Fall der V. Strafsenat, der anders als die meisten anderen Strafsenate in Leipzig und nicht in Karlsruhe sitzt. Im Rahmen der Revision überprüft der BGH das schriftliche Urteil des Landgerichts Itzehoe jetzt auf Rechtsfehler.

Das bedeutet: Der Sachverhalt - also das, was aus Sicht des Gerichts passiert ist - steht fest, daran wird nicht mehr "gerüttelt". Es werden keine (neuen) Zeugen gehört, keine weiteren Beweise erhoben. Das wird oft damit plastisch gemacht, dass die Revisionsinstanz keine "Tatsacheninstanz" mehr ist.

Immer wieder hört man, im Revisionsverfahren gehe es nur um "Formfehler". Das stimmt aber nicht. Wenn der BGH ein Urteil auf Rechtsfehler überprüft, geht es unter anderem um die Frage, ob das Gericht Fehler bei der Rechtsanwendung gemacht hat. Also, ob es aus dem festgestellten Sachverhalt die falschen rechtlichen Schlüsse gezogen hat. Eine entsprechende "Sachrüge" hat die Angeklagte erhoben.           

Was ist mit einer Verjährung?

Für viele Straftaten, die die Menschen in den Lagern erlitten haben, kann heute niemand mehr strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden. Hunderttausende Freiheitsberaubungen etwa, zahllose Misshandlungen aller Art, Raubtaten - all das ist schon seit Jahrzehnten verjährt. Aber: Mord verjährt nicht. Und auch Beihilfe zum Mord verjährt nicht. Deshalb sind Verurteilungen auch heute, mehr als 75 Jahre später, noch möglich.     

Warum ist eine Verurteilung 75 Jahre später wichtig?

"Mord verjährt nicht" - damit wird deutlich: Einen Schlussstrich sieht unser Rechtssystem für solche Fälle nicht vor. Diese Grundentscheidung sei gerade vor dem Hintergrund der NS-Verbrechen getroffen worden, erklärt Thomas Will im Podcast "Die Justizreporter*innen" der ARD-Rechtsredaktion.

Der Jurist leitet die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Die Ludwigsburger Behörde sorgt mit ihren Ermittlungen dafür, dass die Akteure von damals auch heute noch vor Gericht gestellt werden.

Im Strafrecht geht es auch darum, Rechtsfrieden wiederherzustellen. Dafür können solche Prozesse wichtige Beiträge leisten. Das bestätigen auch Hinterbliebene der Ermordeten immer wieder, wenn sie heute an Verfahren gegen die Helfer von damals teilnehmen.  

Warum gab es direkt nach dem Krieg kaum solche Verfahren?

In den Jahren nach 1945 herrschte in der Bundesrepublik eine Art "Schlussstrich-Mentalität": eine Tendenz, eher vergessen als aufarbeiten zu wollen. Ein wichtiger Schritt hin zu mehr Aufarbeitung waren die Auschwitz-Prozesse am Landgericht Frankfurt ab 1963 - initiiert vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Ein generelles Umdenken war damit aber nicht verbunden. 

Später in den 1960er-Jahren entschied der Bundesgerichtshof in Bezug auf Auschwitz: Um das Lagerpersonal von damals wegen Beihilfe zu bestrafen, müsse man den Männern und Frauen konkret nachweisen, welche Morde sie gefördert hätten. Im Kontext der Massenmorde in den Konzentrationslagern eine quasi unlösbare Aufgabe. Deshalb wurden in den folgenden Jahrzehnten viele Verfahren gegen die "kleineren Rädchen" in der Nazi-Tötungsmaschinerie von den Staatsanwaltschaften eingestellt.

Warum sind heute diese Verfahren und Urteile möglich?

Eine Art Wende brachte erst das Urteil gegen John Demjanjuk aus dem Jahr 2011. Das Landgericht München entschied: Allein die Anwesenheit des Lageraufsehers Demjanjuk im Vernichtungslager Sobibor und seine Kenntnis von den Morden reichen aus, um ihn wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen.

Demjanjuk starb allerdings, bevor sich der BGH als oberstes Strafgericht mit der neuen Linie befassen konnte. 2016 bestätigten die Karlsruher Richterinnen und Richter dieses Urteil aber im Fall von Oskar Gröning, dem sogenannten Buchhalter von Auschwitz. 

Wie hat der BGH den wichtigen Gröning-Beschluss begründet?

Die zentrale Aussage lautet: Auch die "kleineren Rädchen" haben eine zentrale Rolle beim Völkermord an den Juden gespielt. Für die Nazis sei ein "organisierter Tötungsapparat" mit eingespielten Abläufen Voraussetzung gewesen, um in kürzester Zeit Tausende Morde zu begehen.

Wörtlich heißt es im BGH-Beschluss: "Nur weil ihnen eine derart strukturierte und organisierte 'industrielle Tötungsmaschine' mit willigen und gehorsamen Untergebenen zur Verfügung stand, waren die nationalsozialistischen Machthaber in der Lage, die 'Ungarn-Aktion' anzuordnen." Im Rahmen der "Ungarn-Aktion" wurden ungarische Juden massenhaft vor allem nach Auschwitz deportiert. Die rechtliche Bewertung aus dem Gröning-Beschluss spielt auch im jetzigen Verfahren eine wichtige Rolle.

Gibt es weitere Ermittlungen?

Seit der Entscheidung gibt es immer wieder Prozesse und Urteile gegen ehemalige KZ-Mitarbeiter und KZ-Mitarbeiterinnen: 2016 etwa gegen den Auschwitz-Wachmann Reinhold Hanning oder 2020 gegen Bruno Dey, einen ehemaligen Wachmann im KZ Stutthof.

Vor dem Landgericht Neuruppin wurde im Juni 2022 ein ehemaliger KZ-Wachmann zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Der Mann war gestorben, bevor er die Haft angetreten hatte. Die Ermittlungen der "Zentralen Stelle" in Ludwigsburg haben laut Behördenleiter Thomas Will dazu geführt, dass die Staatsanwaltschaft Neuruppin aktuell ein Ermittlungsverfahren gegen eine ehemalige Mitarbeiterin des Konzentrationslagers Ravensbrück führt.

Beim Landgericht Hanau wurde im vergangenen Jahr darüber hinaus Anklage gegen einen ehemaligen Angehörigen des Konzentrationslagers Sachsenhausen erhoben, beim Landgericht Berlin gegen einen ehemaligen Wachmann des Kriegsgefangenenlagers Stalag 365, Wladimir-Wolynsk.

In beiden Fällen ist laut Will noch nicht endgültig entschieden, ob die Anklage zugelassen wird - oder ob die beiden hochbetagten Beschuldigten verhandlungsunfähig sind. Beide Male wurde die Eröffnung des Verfahrens von den Gerichten zunächst abgelehnt, nach Angaben der zuständigen Staatsanwaltschaften wurde hiergegen in beiden Fällen Beschwerde eingelegt. Unterdessen laufen die Ermittlungen der "Zentralen Stelle" weiter. Allerdings werden sie wegen des hohen Alters der möglichen Täterinnen und Täter immer mehr zu einem Wettlauf gegen die Zeit.

Wie lief die Aufarbeitung in der DDR?

Nach dem Krieg wurde die Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR zunächst besonders rigoros betrieben - was Polizei, Justiz und innere Verwaltung anging. Der Antifaschismus galt als eine der Hauptsäulen der DDR-Staatsideologie. Er wurde nach innen und außen propagiert - auch, um sich als den besseren der beiden deutschen Staaten zu präsentieren.

Heute ist allerdings bekannt: DDR-Bürgern soll pauschal Absolution erteilt worden sein, wenn sie sich im Gegenzug dem Sozialismus zuwendeten. Ebenso wurden in der DDR lebende NS-Täter wohl nicht konsequent vor Gericht gebracht.