Militärisches Vorgehen gegen den IS "Noch kein Mandat für Militäreinsatz in Syrien"
Die Bundesregierung wird sich am militärischen Vorgehen gegen den "Islamischen Staat" beteiligen - unter anderem mit "Tornado"-Flugzeugen. Was allerdings noch fehlt, ist ein UN-Mandat für den Militäreinsatz, erläutert der Völkerrechtler Jasper Finke im Interview.
tagesschau.de: Braucht man für den internationalen Einsatz verschiedener Staaten in Syrien ein Mandat des UN-Sicherheitsrats?
Jaspar Finke: Nicht zwingend. Staaten haben gemäß Art. 51 UN-Charta auch die Möglichkeit im Rahmen des so genannten kollektiven Selbstverteidigungsrechts militärische Gewalt gegen andere Staaten einzusetzen. Dieses Recht besteht zumindest solange, bis der Sicherheitsrat die notwendigen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit getroffen hat.
Jasper Finke ist Juniorprofessor für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht. Er lehrt an der Bucerius Law School in Hamburg. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist das Völkerrecht.
tagesschau.de: Die Resolution des Sicherheitsrats vom letzten Freitag forderte die Staaten auf, "alle nötigen Maßnahmen" im Kampf gegen die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" im Irak und Syrien zu ergreifen. Kann man das schon als Mandat für den Militäreinsatz sehen?
Finke: Die Formulierung "alle nötigen Maßnahmen" ist eigentlich eine Standardformulierung des Sicherheitsrates, die auch Militäreinsätze der Mitgliedstaaten umfasst. Sie allein entscheidet jedoch nicht über die Reichweite und den konkreten Inhalt der Sicherheitsratsresolution. Soll den Mitgliedstaaten der Einsatz militärischer Gewalt ermöglicht werden, verwendet der Sicherheitsrat regelmäßig Formulierungen, die die Mitgliedstaaten entsprechend autorisieren. Genau diese Formulierung - authorizing all necessary means - hat der Sicherheitsrat vergangenen Freitag jedoch nicht gewählt. Vielmehr hat er die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, unter Beachtung des Völkerrechts alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Diese sprachlichen Unterschiede haben eine große rechtliche Bedeutung. Dementsprechend liegt in der Resolution vom 20. November 2015 kein Mandat für einen Militäreinsatz.
Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.
tagesschau.de: Artikel 51 der UN-Charta enthält das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs. Kann man die Terroranschläge von Paris als bewaffneten Angriff bezeichnen? Braucht es deshalb kein UN-Mandat?
Finke: Bei der Anwendung des Merkmals "bewaffneter Angriff" auf Terroranschläge stellen sich zwei rechtliche Probleme. Das erste betrifft die Intensität der Waffengewalt, damit sie als bewaffneter Angriff qualifiziert werden kann. Und das zweite die Frage, ob sich Staaten gegenüber Nicht-Staaten bzw. Privaten auf das Selbstverteidigungsrecht berufen können.
tagesschau.de: Was bedeutet das Kriterium der Intensität?
Finke: Das Kriterium der Intensität soll verhindern, dass Grenzspannungen und vereinzelte Schusswechsel bereits das Selbstverteidigungsrecht auslösen, da dies eine aus rechtlicher Sicht nicht gewollte Eskalation von Gewalt nach sich ziehen kann. Bei Terrorangriffen ist man bis zu den Anschlägen vom 11. September 2001 davon ausgegangen, dass sie prinzipiell nicht die Intensität eines staatlichen militärischen Angriffs erreichen. Bereits die damals sehr hohen Opferzahlen haben jedoch zu einem Umdenken geführt. Dennoch haben sich keine konkreten Kriterien herausgebildet, mit deren Hilfe sich mit fast mathematischer Genauigkeit die Frage beantworten ließe, wann Terroranschläge die erforderliche Intensität im Rahmen von Art. 51 UN-Charta erreichen.
Meines Erachtens sollte nicht allein auf die Zahl der Opfer abgestellt werden, da diese von Zufälligkeiten abhängt. Als ein weiteres Kriterium bietet zum Beispiel die Zielsetzung der Anschläge an. Damit meine ich nicht die Motivation derjenigen, die die Anschläge verüben, sondern die Ziele der Anschläge selbst. Auch wenn die einstürzenden Türme des World Trade Centers das Bild der Terroranschläge vom 11. September maßgeblich geprägt hat, so waren die Anschläge auch gegen das Weiße Haus und das Pentagon gerichtet. Es ging mithin darum, die USA in ihrer Staatlichkeit zu treffen. Würden reguläre Streitkräfte versuchen, den Regierungssitz und das Verteidigungsministerium eines anderen Staates zu zerstören, würde kaum jemand Zweifel daran äußern, dass es sich um einen bewaffneten Angriff handelt. Überträgt man dies auf die Anschläge in Paris, so ist neben den zivilen Opfern entscheidend, dass der fehlgeschlagene Anschlag im Stade de France nicht nur den Zuschauern galt, sondern nach derzeitigen Kenntnissen auch Präsident Francois Hollande.
tagesschau.de: Und zum zweiten Problem: Dürfen sich Staaten auch gegenüber Privaten auf das Selbstverteidigungsrecht berufen?
Die Berufung auf Art. 51 UN-Charta als Rechtsgrundlage für Militäreinsätze ist also nicht offensichtlich ausgeschlossen, gleichzeitig aber auch nicht das, was Juristen als rechtssicher bezeichnen. Rechtssicherheit ließe sich erst durch ein UN-Mandat herstellen.
tagesschau.de: Zum ersten Mal hat ja ein EU-Staat den europäischen Bündnisfall ausgerufen. Frankreich beruft sich auf Artikel 42 Abs. 7 des EU-Vertrags. Darin heißt es: "Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung." Ist das eine Rechtsgrundlage für den jetzt geplanten deutschen Einsatz in Syrien?
Finke: Völkerrechtlich ist nach wie vor Art. 51 UN-Charta maßgeblich. Denn Art. 42 Abs. 7 EU-Vertrag begründet allenfalls eine Beistandspflicht Deutschlands im Verhältnis zu Frankreich, nicht aber eine eigenständige völkerrechtliche Rechtsgrundlage für einen Militäreinsatz. Dies folgt auch schon aus dem Verweis auf Art. 51 UN-Charta. Das heißt: Maßnahmen im Rahmen von Art. 42 Abs. 7 EU-Vertrag müssen im Einklang mit dem Selbstverteidigungsrecht stehen. Nur dieses kann die völkerrechtliche Grundlage für einen rechtmäßigen Militäreinsatz bilden - oder ein UN-Mandat.
Davon zu unterscheiden ist die verfassungsrechtliche Dimension. Deutschland darf die Streitkräfte im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit einsetzen. Die UN ist ein solches System, handelt derzeit jedoch nicht selbst, sondern erlaubt den Staaten allenfalls über Art. 51 UN-Charta sich selbst zu verteidigen. Dementsprechend ließe sich Art. 42 Abs. 7 EU-Vertrag dahingehend verstehen, dass es sich auch bei der EU um ein System kollektiver Sicherheit handelt, sodass er die verfassungsrechtliche Grundlage für einen Militäreinsatz im Rahmen von Art. 24 Abs. 2 Grundgesetz bildet.
Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.
tagesschau.de: Was ist denn der Unterschied zwischen der Beistandspflicht unter EU-Staaten und dem sogenannten "Bündnisfall" der NATO.
Finke: Der Sache nach sind die Regelungen vergleichbar. In Bezug auf Art. 42 Abs. 7 EU-Vertrag wird jedoch in Zweifel gezogen, dass dieser eine Rechtspflicht begründet. Vielmehr soll es sich um eine Norm mit primär politischem Appell-Charakter handeln. Angesichts der Formulierung von Art. 42 Abs. 7 EU-Vertrag halte ich es jedoch für überzeugender, sie als Rechtspflicht zu verstehen. Um den EU-Mitgliedern einen politischen Spielraum zu ermöglichen, bietet sich vielmehr der Umfang der Beistandspflicht an, das heißt, sie sind zum Beistand verpflichtet, bestimmen aber selbst Umfang und Form der Unterstützung. Damit würde dann rechtlich ein weitgehender Gleichlauf mit Art. 5 NATO-Vertrag und dem dort geregelten Bündnisfall erreicht.
tagesschau.de: Welche konkreten Folgen hätte es für Deutschland, wenn der Einsatz völkerrechtlich nicht gedeckt sein sollte?
Finke: Die Folgen könnten sowohl für die ausführenden Soldaten als auch für diejenigen, die den Einsatz befehligen und verantworten, sehr weitgehend sein. Denn sie würden sich an einem völkerrechtswidrigen Militäreinsatz beteiligen. Wie konkret solche Rechtsfolgen aussehen, hängt jedoch davon ab, mit welchen Mitteln die Justiz dieser Frage nachgeht.
tagesschau.de: Ist die rechtliche Lage eine andere, wenn die Bundeswehr nicht mehr nur hilft, also militärische Aufklärung betreibt, sondern tatsächlich auch kämpft, also zum Beispiel Kampfjets zur Verfügung stellt?
Finke: Völker- und verfassungsrechtlich macht dies keinen Unterschied.
tagesschau.de: Die Bundesregierung hat nach einer Sitzung des Sicherheitskabinetts den Einsatz beschlossen. Bedarf es, bevor es wirklich losgeht, noch der Zustimmung des Parlaments? Auch wenn die Bundeswehr selbst nicht kämpfen soll?
Finke: Eines Parlamentsbeschlusses bedarf es nicht nur bei einer Einbeziehung der Streitkräfte in bewaffnete Unternehmungen, sondern bereits dann, wenn eine solche Einbeziehung zu erwarten ist. Dies hängt natürlich ganz maßgeblich von den konkreten Einsatzplanungen und der damit einhergehenden Gefahr ab. Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf den Einsatz von AWACS-Flugzeugen, die der Aufklärung und Einsatzlenkung dienen, einen Parlamentsbeschluss für notwendig erachtet. Ausgehend davon und den bisherigen Informationen zu den geplanten Einsätzen der Bundeswehr in Syrien halte ich einen Parlamentsbeschluss ebenfalls für erforderlich.
Das Interview führte Kolja Schwartz und Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion