Politikwissenschaftler über Merkel "Alle folgen Merkel" funktioniert nicht mehr
Die Fraktion und ihre neue Spitze werde nicht anfangen, die Kanzlerin zu demontieren, sagt Politikwissenschaftler Neugebauer im Interview. Doch Merkel müsse die Parlamentarier stärker einbeziehen. Nach der Kauder-Niederlage brauche sie Erfolge.
NDR: Ralph Brinkhaus, der neue Mann an der Spitze der Unionsfraktion, verspricht Aufbruch und Handeln. Was bedeutet das jetzt für Angela Merkel?
Gero Neugebauer: Angela Merkel muss ihre Beziehung zur Fraktion neu gestalten. Sie konnte sich ja bei Kauder immer darauf verlassen, dass er wusste, was sie wollte und deshalb manchmal auch schon vorbeugend tätig wurde. Sie muss sehen, dass sie die Fraktion vielleicht stärker einbezieht in ihre Überlegungen. Aber sie wird nicht darauf setzen können, dass nun ein Prozess der Revitalisierung der alten Führungskonzeption einsetzt nach dem Motto 'Merkel voran und alle folgen'.
Gero Neugebauer studierte Politik- und Sozialwissenschaften. Bis 2006 unterrichtete er hauptamtlich am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Er war dort danach als Lehrbeauftragter tätig und arbeitet als politischer Publizist. Schwerpunkte seiner Forschung sind das deutsche Parteiensystem sowie Wahlen und Wahlverhalten.
Fraktion als Nebenregierung?
NDR: Brinkhaus hat ja das Versprechen abgegeben, dass die Fraktion die Regierung kontrolliert und nicht umgekehrt. Erleben wir da jetzt möglicherweise eine neue Fraktion, die auch mehr Streit sucht mit der Kanzlerin?
Neugebauer: Ich glaube das ist zu hoch gesprungen. In unserem parlamentarischen System unterstützen die Fraktionen der Regierungspartei die Regierung und die Oppositionsparteien kontrollieren sie. Das mag man bedauern. In anderen Parlamenten ist es anders, aber hier steht nicht das ganze Parlament der Regierung gegenüber. Aber Brinkhaus wird zumindest versuchen, stärker Einfluss zu bekommen. Nur dass sich das zur Nebenregierung gestalten kann, das bezweifle ich stark.
NDR: Jetzt hat sich in dem Ergebnis auch der Wunsch nach Verjüngung, nach einem neuen Stil in der Fraktion ausgedrückt. Das ist das eine. Das andere ist das Votum gegen den ausdrücklichen Willen der Kanzlerin. Wie einsam, wie geschwächt ist die Kanzlerin inzwischen?
Neugebauer: Es gibt etwas, was sie alle zusammenhält - und das ist der Wunsch, nicht die Macht zu verlieren. Insofern wird auch die neue Fraktionsspitze und die Fraktion nun überhaupt nicht anfangen, Frau Merkel so zu demontieren, dass man das Gefühl haben muss, die nächste Wahl nicht zu schaffen.
Das andere ist in der Tat, dass die CDU, aber auch die CSU, durch das Votum von gestern in eine Situation geraten ist und in den Medien so kommentiert wird, als seien sie nicht mehr handlungsfähig. Das heißt, man kann jetzt eigentlich nur sagen: Wenn sie es jetzt nicht schafft, eine Sache von allgemeiner Wichtigkeit wie die Dieselaffäre oder das Mietenproblem so schnell zu erledigen, dass man sagen kann, das ist kein Stolperstein, dann muss man sagen, Frau Merkel macht sich auf die Suche nach einer Nachfolge.
"Eine Art Vertrauensfrage gestellt und verloren"
NDR: FDP-Parteichef Christian Lindner hat jetzt gefordert, die Kanzlerin sollte die Vertrauensfrage im Bundestag stellen. Ist das überhaupt eine Option? Herr Brinkhaus sagt, das sei Quatsch.
Neugebauer: Da schließe ich mich ihm an. Das ist Quatsch. Sie hatte eine Art Vertrauensfrage in der Fraktion gestellt. Die hat sie mit der Wahl von Kauder verloren. Wenn sie bei einer politischen Entscheidung Zweifel hat, dass die Fraktion ihr folgt, dann kann sie die Vertrauensfrage in der Fraktion stellen. Und sie wird sich vielleicht auf dem Parteitag Ende des Jahres stellen, wenn sie sich noch mal zur Wiederwahl stellt, aber im Bundestag nicht.
Es ist kein politisches Projekt, das sie repräsentieren möchte und für das sie um Vertrauen wirbt. So weit ist der Zeitpunkt noch nicht.
Das Interview führte Liane Koßmann, NDR Info.