Interview zu Ärzte-Protesten "Das Honorarsystem ist gescheitert"
Im Honorarstreit mit den Kassen setzen viele Ärzte auf Protest. Die bislang beschlossene Erhöhung um 0,9 Prozent sei wegen der Inflation eine Kürzung, sagt Hausarzt Frank Stüven im Interview mit tagesschau.de. Er kritisiert vor allem die ungleiche Verteilung der Honorare. Dennoch ist er gegen einen Streik.
tagesschau.de: Wie ist der Alltag in ihrer Praxis wirtschaftlich organisiert?
Frank Stüven: Wenn ein Patient kommt, habe ich für seine Behandlung ein Budget von 32 Euro. Mit diesem Betrag sind alle meine Leistungen abgegolten. Im Endeffekt ist das Geld dann schon mit dem ersten Blutdruckmessen aufgebraucht. Alles, was darüber hinausgeht, wie Patientengespräche oder normale Hausbesuche, wird nicht extra honoriert. Es gibt darüber hinaus bestimmte Qualitätszuschläge, die in einem gewissen Rahmen zusätzlich bezahlt werden, wie zum Beispiel die Krebsvorsorge. Mein Umsatz pro Patient in drei Monaten liegt dann im Schnitt bei 47 Euro. Multipliziert mit der Anzahl an Patienten, die ich behandele, ergibt sich dann mein Gesamtumsatz.
"Fehlende Honorarsteigerung macht sich schmerzlich bemerkbar"
tagesschau.de: Wie viele Patienten müssen Sie am Tag behandeln, um Ihre Praxis am Laufen zu halten?
Stüven: Am Tag hat man als Hausarzt zwischen 60 und 70 Patientenkontakte. So kommt man in Hamburg auf ein Honorar von ungefähr 2600 Euro netto - bei durchschnittlich 55 Stunden Arbeit in der Woche. Wir haben von unserem Umsatz ja auch Mieten zu zahlen, wobei der größte Kostenpunkt das Personal ist. Man rechnet bei Allgemeinärzten den Umsatz minus 55 Prozent und erhält so den Praxisgewinn vor Steuern. Da macht sich die mangelnde Steigerung der Honorare für Hausärzte sehr schmerzlich bemerkbar. Ich habe gerade eine Kollegin besucht, die eine von zwei Helferinnen entlassen musste, da ihre Praxis so desolate Zahlen hatte, dass es gar nicht mehr ging.
tagesschau.de: Hausärzte klagen schon seit längerem über wirtschaftliche Probleme. Häufig ist gar zu hören, dass sich Hausarztpraxen nicht mehr wirtschaftlich rentieren - berechtigte Klagen?
Stüven: Ja, von den besagten 47 Euro kann man niemanden mehr motivieren, Hausarzt zu werden. Die Medizinstudenten von heute wissen auch, dass es lukrativere Fächer gibt. Deswegen bin ich dagegen, dass wir jetzt einfach das Geld, das die Krankenkassen mehr haben, im System per Gießkanne ausschütten. Das Geld muss in die Bereiche fließen, in denen die Versorgung gefährdet ist - je nach Region und Fachgebiet. Das sind insbesondere die Hausärzte. Aber auch Fachärzte wie die Nervenärzte sind betroffen. Je näher am Patienten und je weniger mit Technik gearbeitet wird, desto weniger Geld bleibt den Ärzten. Je jünger und gesünder ihre Patienten sind, desto mehr Geld bekommen sie. Und wenn sie viele alte Patienten haben, sind sie im Grunde pleite. Dann machen sie den Job nur noch aus Idealismus, sonst müssten sie zurück in den Klinikdienst gehen.
tagesschau.de: Wie unterscheidet sich die Situation der Hausärzte von der Lage der Fachärzte?
Stüven: Es geht längst nicht allen Fachärzten gut. Aber in den Ärzteverbänden haben die Spezialisten das Sagen. Einige Interessengruppen haben sich da jahrelang zu Lasten anderer durchgesetzt, und die gesetzliche Trennung der Honorare von Hausärzten und Spezialisten kam zu spät. Das hat dazu geführt, dass einige Leistungen sehr gut bezahlt werden. Große Bereiche, wie die Hausärzte oder die Nervenärzte, kommen dagegen kaum noch zurecht. Ich habe seit meiner Niederlassung vor 14 Jahren keinerlei Anstieg meiner Vergütung gehabt. Seit 14 Jahren schwankt meine Vergütung zwischen 43 und 47 Euro pro Patient, während die Krankenkassen in diesen Jahren mehr Geld nach Hamburg geschickt haben. Aber die Verteilung ist so ungleich und so wenig sachgerecht, dass dringender Handlungsbedarf besteht.
"Spezialisten bestimmen, wie viel Hausärzte verdienen"
tagesschau.de: Es ist also an der Politik, etwas am Verteilungssystem zu ändern?
Stüven: Die Politik muss die Kassenärztlichen Vereinigungen zwingen umzuverteilen und die Kassen zwingen, ihrer gesetzlichen Pflicht nachzukommen und Hausarztverträge anzubieten. Die Politik sollte sich dringend überlegen, das System so zu ändern, dass es einen getrennten Bereich für Hausärzte und Fachärzte gibt. Im Moment ist es noch so, dass die Spezialisten bestimmen, wie viel Geld wir Hausärzte verdienen. Wir brauchen hier eine klare Trennung und in dem Topf für die Hausärzte mehr Mittel. Aber für die Politik ist es einfacher, die Verantwortung auf die Krankenkassen und die Ärzte abzuschieben. Und da die Hausärzte in der Politik, aber auch in ihrer eigenen Vertretung, der Kassenärztlichen Vereinigung, kaum Einfluss haben, haben sie und ihre Patienten das Nachsehen.
tagesschau.de: Der Bewertungsausschuss zu den Ärztehonoraren hat beschlossen, dass die Honorare für niedergelassene Ärzte um 270 Millionen Euro steigen sollen - ein Plus von 0,9 Prozent. Der Ärzteverband fordert deutlich mehr, etwa elf Prozent. Ist die derzeitige Erhöhung aus Ihrer Sicht nicht ausreichend?
Stüven: Das hängt davon ab, welchen Zeitraum sie nehmen. Wenn sie sagen, es ist für ein Jahr, dann ist es immer noch unterhalb der Inflation. Dann ist es de facto eine Kürzung. Aber wir haben seit drei Jahren die Gelder nicht erhöht bekommen. Deswegen müssen wir den Inflationsausgleich für drei Jahre nachfordern. Das ist auch für fast alle Fachbereiche legitim. Aber auch bei den 0,9 Prozent ist es nicht zielführend, diese Erhöhung einfach auf jeden Bereich anzuwenden. Wir müssen dieses zusätzliche Geld dort hinbringen, wo die Versorgung gefährdet ist.
tagesschau.de: Jede ärztliche Leistung wird nach einem Leistungskatalog honoriert. Hausärztliche Leistungen werden geringer entlohnt als die von Fachärzten. Warum ist das aus ihrer Sicht ungerecht?
Stüven: Ich glaube, dass es einer Menge Fachärzten noch recht gut geht. Angefangen von den Internisten mit viel Technik, über Laborärzte oder Radiologen. Aber es gibt auch Fachärzte, die erheblich zu kämpfen haben, wie zum Beispiel die Augenärzte, die konservativ behandeln und nicht gleich operieren. Das ist eine solche Ungerechtigkeit im System, dass das fast nicht mehr zu reparieren ist.
tagesschau.de: Ist das aktuelle Honorar-System an sich nicht mehr zeitgemäß?
Stüven: Nein, es ist gescheitert. Wenn Hausärzte keine Nachfolger mehr finden und in Ruhestand gehen, dann ist das System gescheitert. Und das liegt eben auch an der Bezahlung. Wir brauchen aber als Gesellschaft Hausärzte. Das ist für den Beitragszahler wichtig, um die Kosten niedrig zu halten. Und das ist für den Patienten wichtig, um versorgt zu werden, von Anfang an bis zum Sterbebett.
"Ein Streik ist nicht zielführend"
tagesschau.de: Rund jede dritte Arztpraxis beteiligt sich laut KBV an den aktuellen Protesten. So werden Anfragen der Kassen etwa zu Krankschreibungen oder zu Reha-Maßnahmen von den Ärzten gar nicht oder nur eingeschränkt beantwortet. Auch Bonushefte werden von vielen Ärzten vorerst nicht mehr abgestempelt. Aus Ihrer Sicht eine sinnvolle Aktion?
Stüven: Die derzeitigen Aktionen erschrecken sicherlich niemanden. Ein wirklicher Streik ist für uns ohnehin juristisch nicht möglich und nicht zielführend.
tagesschau.de: Der Protest soll dennoch verstärkt werden. Ulrich Weigeldt, Chef des deutschen Hausärzteverbands, hat sich eher zurückhaltend zu möglichen Praxisschließungen geäußert. Warum sind die Hausärzte in diesem Punkt zurückhaltender als die Fachärzte?
Stüven: Wir streiken nicht, weil wir unsere Patienten nicht in Geiselhaft nehmen wollen. Die Krankenkassen sind in der Pflicht, die überschüssigen Gelder dahin zu bringen, wo die Arbeit anfällt. Und wir halten einen solchen Protest auch nicht für zielführend. Wir wissen doch nicht, wer morgens vor unserer Tür steht. Es kann ja auch ein akuter Herzinfarkt sein, der mit dem Rettungswagen direkt ins Krankenhaus muss. Wir sind ja auch Notfallversorger und können nicht einfach dicht machen.
tagesschau.de: Was steht am Ende der Proteste?
Stüven: Realistisch wird es eine Einigung zwischen zwei und drei Prozent geben. Wenn wir aber Pech haben, wird es jetzt jedes Jahr zu einem Ritual, dass die Kassen eine bestimmte Summe anbieten und die Ärzte die Annahme verweigern und auf die Straße gehen. Die Probleme sind aber mit Geld allein nicht zu lösen, wir brauchen eine Strukturreform, gegen den Willen der KVen und der Kassen!
Das Interview führte Peer Junker, tagesschau.de.